Bern Eine breit angelegte Studie des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeigt erstmals das ganze Ausmass der Essstörungen in unserem Land. 4,1 Prozent der Schweizer Bevölkerung leiden an lebensbedrohlichem Diätwahn, an Ess-Brech-Sucht oder wiederkehrenden Fressanfällen. 10 Prozent davon sterben daran. Die Resultate machen klar: Die Gesundheitsbehörden von Bund und Kantonen haben das Problem während Jahren sträflich unterschätzt. Sie gingen von massiv tieferen Krankheitsraten aus.

In der Schweiz dreimal mehr Betroffene als in Deutschland

Einer der insgesamt 205 000 in der Schweiz von Essstörungen Betroffenen ist Eric T. Immer wieder wird der 23-Jährige von Fressattacken überwältigt: «Dann kippt bei mir ein Schalter, dann renne ich ins nächste Lebensmittelgeschäft.» Auf einmal verschlingt er einen Literkübel Eiscreme, fünf Croissants und ein paar Donuts. Manchmal auch noch eine Biskuit-Roulade. In schlechten Zeiten macht er das täglich. Heimlich, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.

Wie häufig Schicksale wie jenes von Eric T. in der Schweiz sind, war den Gesundheitsbehörden bis vor kurzem nicht klar. Die offiziellen Schätzungen lagen bei 0,5 bis 1 Prozent. Tatsächlich liegt die Quote laut der unveröffentlichten Studie mit 4,1 Prozent um ein Mehrfaches höher. Das überraschende Resultat beförderte eine Befragung zutage, welche das BAG zwischen April und Oktober 2010 bei 10 038 Personen in allen Landesteilen durchführte. Kostenpunkt der Untersuchung: 600 000 Franken.

Die Studie macht ausserdem deutlich: Im internationalen Vergleich steht die Schweiz schlecht da. Unsere Bevölkerung leidet viel häufiger unter schwerwiegenden Essproblemen wie diejenige anderer europäischer Länder. In der Schweiz ist die Quote der Betroffenen fast dreimal so hoch wie in Deutschland und doppelt so hoch wie in Holland. Auch in Italien und in Spanien gibt es weniger Betroffene. Nur in Frankreich und Belgien ist das Problem häufiger als in der Schweiz.

Die Quote der Ess-Brech-Süchtigen sei «in der Schweiz höher als in anderen Ländern», halten die Forscher der Universität Zürich fest, welche die Studie im Auftrag des BAG ausgeführt haben, vorab fest. Schon bei Erstklässlern registrierten die Forscher Fälle. Bei den 15-Jährigen sind schweizweit rund 25 000 Fünfzehnjährige daran erkrankt. Mehr als 80 000 Personen leiden bis zum Alter von 60 Jahren einmal an Ess-Brech-Sucht. Auffällig: Fast ein Drittel der Fälle betrifft Männer. Sie lassen sich laut Experten erst sehr spät, wenn sie in Lebensgefahr sind, behandeln.

Vereine fordern Umverteilung der Präventionsgelder

«Die tatsächliche Tragweite des Problems wurde unterschätzt», sagt Bettina Isenschmid, Oberärztin am Berner Inselspital und Präsidentin von PEP Suisse, einem Verein, der sich für die Prävention von Essstörungen einsetzt. Solche Vereine, Suchtberatungsstellen und Spitäler, die Anlaufstellen für Essgestörte sind, mussten in den vergangenen Jahren mit knappem Budget auskommen.

Nachdem die Resultate der Studie jetzt durchgesickert sind, fordern sie eine Umverteilung der Präventionsgelder und eine breit abgestützte Essstörungsprävention. «Im Moment fliesst viel Geld in die Verhinderung von Übergewicht», sagt Erika Toman, Präsidentin des Expertennetzwerks Essstörungen. Personen mit chronischen Essstörungen kämen zu kurz. Für sie brauche es dringend Angebote wie eine Unterstützung beim Einkaufen oder beim Kochen sowie Ess- und Wohngruppen. Als Sofortmassnahme arbeitet eine Expertengruppe des BAG jetzt an neuen Leitlinien. Auf der Internetsite des Bundes sollen Hilfsangebote aufgeschaltet werden. Zudem will das BAG Hausärzte bei der Behandlung von Risikopatienten unterstützen.

Informationen und Anlaufstellen: www.netzwerk-essstoerungen.ch