In keinem anderen europäischen Land haben Mediziner so wenig Zeit für ihre Patienten wie in Deutschland. Aber das ist nicht das einzige Problem.
Ärztin mit CT-Aufnahmen
© PICTURE ALLIANCE/CHROMORANGEÄrztin mit CT-Aufnahmen: Deutsche Ärzte nehmen sich vergleichsweise wenig Zeit für das Gespäch mit den Patienten.

Das Gesundheitswesen und das Wetter haben einiges gemein - in beiden Fällen handelt es sich erstens um komplexe, schwer durchschaubare Systeme; zweitens kann bei diesen Themen wirklich jeder mitreden, und drittens sind künftige Entwicklungen hier wie dort schwer vorhersehbar.

Einen wichtigen Unterschied gib es indes: Während sich das Wetter weitgehend unabhängig, gleichsam aus sich heraus produziert, wird die medizinische Versorgung von einer Vielzahl im Gegensatz zueinander stehender Interessen geprägt.

Der Patient mag da idealistischerweise noch so sehr im Mittelpunkt stehen, stets ist er umgeben von einem imaginären Kreis, der ihm von gesetzlichen Rahmenbedingungen, Krankenkassen, Ärzten, Pflegern, Angehörigen, der Gerätemedizin, den Pharmaherstellern, dem Stand von Wissenschaft und Technik sowie nicht zuletzt durch begrenzte finanzielle Ressourcen gesetzt wird.

Dass es hier und da im hiesigen Gesundheitswesen hakt, weiß irgendwo jeder, der sich in jüngerer Vergangenheit in stationärer oder ambulanter Behandlung befunden hat. "Gesundheitssystem im Umbruch" war gar der Titel einer Fachkonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia, bei der Experten sich um eine Diagnose für das kränkelnde System bemühten und bisweilen auch vorsichtige Therapievorschläge machten.

Der Chirurg Professor Volker Schumpelick, Emeritus der Uniklinik Aachen, sieht drei Hauptprobleme: unnötige Doppeldiagnostik aufgrund fehlender Datenabgleiche, eine zu schlechte Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung sowie die sogenannte blutige, also eine zu frühe Entlassung von Patienten. Dies führe zum Kosten steigernden "Drehtüreffekt".

Professor Manfred Weber, Direktor der Medizinischen Klinik der Stadt Köln, hat indes das Fallpauschalensystem (DRG) im Visier. Es führe dazu, dass im Krankenhaus "kein individuelles Nachdenken" mehr stattfinde. Durch die aufwendige Dokumentation von Leistungen und Arbeitsverdichtung hätte der Arzt immer weniger Zeit für seine Patienten.

Apparatemedizin für höhere Erlöse

Auf der anderen Seite steigere die aufwendige Apparatemedizin die Erlöse. So entstehe ein Interessenkonflikt zwischen Aspekten der Wirtschaft und der Humanität, bei dem es am Ende zum Vertrauensverlust des Patienten komme. Besonders beklagenswert sei, dass in diesem System der Notfallpatient störe. Denn das kostenintensive Vorhalten von Geräten und Personal für potenzielle Notfälle werde vom Vergütungssystem nicht berücksichtigt.

Der Berater Professor Heinz Lohmann von der Lohmann-Konzept GmbH kritisiert, dass in Krankenhäusern sehr viel Zeit und Geld durch improvisierte Abläufe vergeudet werde. Hier könne durch Etablieren von standardisierten und zertifizierten Prozessen viel gewonnen werden. Lernen könne man da etwa vom Betrieb der Aida-Kreuzfahrtschiffe, auf denen täglich 67 zertifizierte Prozesse reibungslos ablaufen und eine hohe Qualität und Effizienz garantieren würden.

Den 140.000 Ärzten in deutschen Krankenhäusern stehen 110.000 niedergelassene Ärzte gegenüber. Ein großes Problem ist die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum. Der Gesundheitssystemforscher Professor Friedrich Wilhelm Schwartz von der Medizinischen Hochschule Hannover rechnet vor, dass auf dem Lande 800 Ärzte fehlen. Da helfe es auch nicht weiter, dass es nach seiner Analyse in den großen Ballungszentren 25.000 Ärzte zu viel gebe.

Mit Geld lasse sich diese Schieflage kaum beheben. Eine Untersuchung habe ergeben, dass man einem Arzt aus einer Stadt ein zusätzliches Monatsgehalt von 9000 Euro in Aussicht stellen müsse, bevor er bereit wäre, mit seiner Familie auf das platte Land zu ziehen.

Die Zeit, die sich Ärzte für ihre Patienten nehmen können, ist hierzulande so knapp bemessen wie in keinem anderen europäischen Land. Es seien im Durchschnitt nur 9,1 Minuten. Professor Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, ergänzt diese Zahl um ein Detail: "Nach durchschnittlich 18 Sekunden unterbricht der Arzt den sein Anliegen schildernden Patienten."

Insgesamt sieht der niedergelassene Arzt in seiner Praxis 243 Patienten pro Woche. Dass es dabei heute öfter als noch vor einigen Jahren zu Wartezeiten für Patienten kommt, bestätigt der Geschäftsführende Vorstand des AOK-Bundesverbandes, Jürgen Graalmann. Nach seinen Zahlen mussten 2006 nur vier Prozent der Patienten länger als eine Woche auf einen Termin beim Hausarzt warten. 2010 waren es schon acht Prozent.

Professor Michael Polonius vom Berufsverband der Deutschen Chirurgen ist sich sicher: "Die Mediziner werden gezwungen sein, künftig mit weniger Manpower mehr zu leisten."