Bochum. Fachärzte schlagen Alarm: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind zu dick. Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft warnt bei ihrer Jahrestagung in Bochum bereits vor einer „verlorenen Generation“.
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Jeder sechste Schüler in Deutschland gilt als übergewichtig. Sechs Prozent sind mit einem Body-Mass-Index von über 30 krankhaft fettleibig - doppelt so viele wie vor zehn Jahren. „Allein in unserem Einzugsgebiet Bochum/Herne/Hattingen gehen wir inzwischen von 60 000 betroffenen Kindern und Jugendlichen aus. Die Tendenz ist besorgniserregend“, sagt Dr. Thomas Hulisz, Chef des Augusta-Adipositas-Zentrums.

Seine Kollegen von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft bestätigen den Befund. Mit Beginn der Grundschule steige die Zahl der jungen Dicken; bei den Mädchen mehr als bei den Jungen. Entsprechend früher setzen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Krebs oder Demenz ein. „Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen werden dramatisch sein“, sagte Prof. Stephan Herpertz (LWL-Klinikum Bochum) am Donnerstag bei der Eröffnung der Jahrestagung der Adipositas-Gesellschaft, die sich bis Samstag im Veranstaltungszentrum der Ruhr-Uni dem Schwerpunkt „Adipositas in der ersten Lebenshälfte“ widmet.
Gesundheit als Schulfach

Wer über die Fettleibigkeit von Kindern klagt, darf nicht vergessen: Die Jungen und Mädchen selbst trifft die geringste Schuld. Das führungslose Elternhaus, die machtlose Politik, die skrupellose Lebensmittelindustrie, die fruchtlosen Appelle der Ärzte und Verbraucherschützer: Die Ursachen für die dramatisch steigenden Adipositas-Zahlen sind vielfältig. Und doch darf der Kampf nicht verloren gegeben werden. Vor allem den Schulen kommt eine große Bedeutung zu. Die Ganztagsschulen können den Kindern und Jugendlichen täglich neu und nachhaltig beweisen, wie lecker gesunde Kost sein kann. Und: Ein Schulfach „Gesundheit“ könnte der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Volkskrankheit gerecht werden. js
Die Mediziner rufen zur verstärkten Vorbeugung gegen das gestörte Essverhalten auf. Nach dem Scheitern der Lebensmittel-Ampel könnte der Gesetzgeber (wie in Dänemark) eine Fettsteuer einführen, um ungesunde Nahrungsmittel teurer zu machen. „Ein erster Schritt wäre auch ein Verbot von gesüßten Getränken in Schulen“, so Tagungspräsident Prof. Dr. Reinehr. Eistee müsse auf einer solchen Verbotsliste Platz 1 einnehmen, empfiehlt Augusta-Experte Dr. Hulisz. „Ein Liter gesüßte Getränke deckt bei Kindern die Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs, ohne ein Sättigungsgefühl zu erzeugen. Eistee ist für mich die Kalorienbombe des Jahrzehnts!“

Gefördert werden müsse derweil die Bewegung bei Jungen und Mädchen, möglichst schon im Kindergartenalter. „Man sieht ja kaum noch spielende Kinder draußen. Die meisten sitzen nach der Schule vor dem PC oder Fernseher. Sport und Bewegung müssen einen viel größeren Stellenwert erhalten“, fordert Dr. Hulisz, der das Aufbrechen familiärer Strukturen und den Wandel im Berufsleben als weitere Gründe für die zunehmende Fettleibigkeit ausmacht. „Viele Kinder ernähren sich hauptsächlich von Fast Food, weil Mütter als Mitverdiener mittags arbeiten müssen. Manchmal spielt auch Bequemlichkeit eine Rolle. Die Folgen haben wir in unserem Zentrum vor uns sitzen.“

Wie die Adipositas-Gesellschaft erkennt Dr. Hulisz eine Chance in der Ganztagsschule. „Die Übermittagbetreuung sorgt vielerorts dafür, dass die Schüler ein nahrhaftes Mittagessen erhalten. Das ist besonders für Kinder aus sozial schwachen Familien eine Möglichkeit, gesundes Essen für sich zu entdecken, und ein gutes Stück Prävention“, betont auch Prof. Herpertz.

Therapien (die bei Kindern von der Kasse bezahlt werden) mit guten Heilungsaussichten gibt es reichlich. „Auf eine Frage indes haben wir noch keine Antwort“, erklären die Fachmediziner: „Wie können wir die Eigenverantwortung stärken und aus einem unmotivierten einen motivierten Patienten machen?“