Verbote lassen junge Migrantinnen häufig am Leben verzweifeln: Laut einer WHO-Studie liegt die Suizidrate bei jungen Türkinnen fünfmal höher als bei Deutschen.
Frauen mit Kopftuch
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Sie war erst 19 Jahre alt, als sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Die junge Türkin sollte mit einem Cousin verheiratet werden, doch sie liebte einen Anderen. Der war ebenfalls aus der Türkei, doch von den Eltern nicht akzeptiert.

Als das Mädchen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bekam ihre Mutter einen Schreck. „Sie war entsetzt, und die Familie löste die Verlobung mit dem Cousin auf“, sagt Meryam Schouler-Ocak.

Die Psychiaterin ist seit Ende 2008 Studienleiterin eines Projekts an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus in Berlin. Es untersucht Selbstmordraten und Selbstmordprävention bei Berliner Frauen mit türkischem Migrationshintergrund.

„Die Rate liegt laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation im Raum Würzburg bei Türkinnen fünfmal höher als bei Deutschen“, sagt Schouler-Ocak. Die vom Bundesforschungsministerium geförderten Berliner Studie soll jetzt mehr Details liefern. Sie läuft über drei Jahre und enthält neben einer Datenerhebung aus Notfallaufnahmen auch eine Befragung. Von Interesse sind besonder die Beweggründe der Frauen.

Am Montag wird Schouler-Ocak erste Ergebnisse bei der „Woche der seelischen Gesundheit“ in Berlin präsentieren. Über 35 Städte und Regionen beteiligen sich bundesweit an der Woche, die über Prävention und Therapie psychischer Erkrankungen informiert und auf die Belange psychisch Erkrankter aufmerksam machen soll.

In Berlin stehen Migranten im Mittelpunkt. Schouler-Ocak, die die Woche als Leiterin des Berliner Bündnisses gegen Depression seit fünf Jahren mit organisiert, hob das Thema mit auf die Agenda. „Mehr Aufklärung ist notwendig, mehr Prävention“, sagt sie. Noch liegen keine abschließenden Daten aus der Studie vor, doch lasse sich einiges über die Motivlage der Frauen sagen.

„Junge Frauen zwischen 18 und 34 Jahren denken häufig an Suizid, weil sie die Verbote zu Hause nicht aushalten“, berichtet Schouler-Ocak. Die Mädchen dürften keinen Freund haben, sie dürften Kleidung oder Hobbys nicht frei wählen und fühlten sich als „Marionette der Familie“.

Bei Frauen zwischen 35 und 54 Jahren sei die Untreue des Partners ein wichtiger Grund. „Die Männer dürfen vor der Hochzeit alles und schränken sich auch danach wohl nicht ein“, berichtet sie, was sie in Fokusgruppen erfuhr. Dort äußerten sich Migrantinnen und Experten zum Thema. „Einsamkeit und Armut sind die häufigsten Motive älterer Türkinnen. Sie fühlen sich als Verlierer der Migration“, sagt die Psychiaterin. Die Frauen seien vom Leben enttäuscht, denn sie seien „woanders angekommen, als sie geplant hatten“.

Teil der Studie war die Kampagne „Beende Dein Schweigen - nicht Dein Leben“, zu der eine Telefon-Hotline gehörte. Hier suchten zahlreiche Frauen Hilfe. „Spannend war, dass 15 Prozent der Anrufer Männer waren“, sagt Schouler-Ocak. Sie seien Freunde oder Verwandte von Frauen gewesen. Auch einige Mitarbeiter von Beratungsstellen oder Therapeuten hätten sich erkundigt, wie Migrantinnen geholfen werden könnte.

„Es herrschte bei einigen Hilflosigkeit, denn die Welt der Migrantinnen erscheint vielen immer noch fremd“, sagt Schouler-Ocak. Dabei seien es nicht Sprachunterschiede, die eine Rolle spielten. Einige Migrantinnen hätten selbst lieber deutsch gesprochen, weil es für sie einfacher war.

„Es sind die kulturgebundenen Dinge, die wichtiger sind“, berichtet sie. Ein deutscher Psychologe würde einem türkischen Teenager vielleicht raten, sich gegenüber den Eltern durchzusetzen, wenn sie zu viele Verbote aussprächen. „Das sind gut gemeinte Ansätze, aber sie greifen nicht, wo es erforderlich wäre.“

Um den Frauen zu helfen, müssten die Türkinnen laut Schouler-Ocak besser über Hilfsmöglichkeiten informiert werden. Ein anderer Ansatz sei es, auch deutschen Helfern mehr Wissen in interkulturellen Fragen zu vermitteln. „Nicht jede Türkin will zu einem türkischen Therapeuten, weil die Schamgrenze da noch höher ist“, sagt sie.

AFP