Jenseits der Atombombenversuche war Fukushima das Ereignis in der Geschichte, in dem die größte Menge radioaktiver Edelgase freigesetzt wurde. Das ermittelten Atmosphärenforscher in einer neuen Studie
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© dpaWann genau begann die nukleare Verseuchung in Fukushima? Atmosphärenforscher haben dazu neue Erkenntnisse.
Bei der nuklearen Katastrophe von Fukushima im März dieses Jahres wurde möglicherweise zweieinhalb Mal so viel radioaktives Edelgas Xenon-133 freigesetzt wie durch den Super-GAU von Tschernobyl. Radioaktive Edelgase wie Xenon-133 oder Krypton 85, die bei einem Unfall aus einem Atomreaktor austreten, können vom Menschen über die Atmung aufgenommen werden, dadurch ins Blut gelangen und im schlimmsten Fall eine akute Strahlenkrankheit auslösen.

Schäden bereits durch das Erdbeben

Zudem strömte das Gas vermutlich schon aus, als der verheerende Tsunami, der auf das Erdbeben folgte, die Küste noch gar nicht erreicht hatte. Bislang aber galt diese Flutwelle als Auslöser der Kernschmelzen in drei Reaktoren der japanischen Atomanlage, die sechs aktive und zwei stillgelegte Blöcke umfasste. Die offizielle Darstellung stimmt also womöglich nicht, und die Meiler wurden bereits durch das Erdbeben beschädigt. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Studie eines internationalen Forscherteams.

Federführend wurde sie von Experten des Norwegian Institute for Air Research (NIAR) erstellt, auch die österreichische Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik Wien war beteiligt. Für die bisher umfangreichste Untersuchung dieser Art werteten die Wissenschaftler Daten von rund 1000 Radioaktivitätsmessungen in der Luft und am Boden aus, die in Japan, den USA und Europa durchgeführt wurden. Als Ergebnis errechneten sie, dass in den Tagen vom 11. bis zum 15. März rund 16 700 Peta-Becquerel (PBq) Xenon-133 in die Atmosphäre gelangten (1 PBq = eine Billiarde Becquerel; die Einheit Becquerel gibt an, wie viele Atome eines radioaktiven Stoffs pro Sekunde zerfallen).

Dies sei „die größte Freisetzung radioaktiver Edelgase in der Geschichte, die nicht mit Atombombenversuchen zusammenhängt“, schreibt die Forschergruppe um den NIAR-Atmosphärenphysiker Andreas Stohl. Wahrscheinlich sei das gesamte Xenon-133, das sich in den Reaktoren 1-3 der Anlage während des Betriebs angesammelt hatte, entwichen. Der Reaktorblock 4 lag zum Unglückszeitpunkt wegen Wartungsarbeiten still. Die Zahlen sind jedoch mit großen Unsicherheiten behaftet, denn die Messungen stimmen nicht mit den per Computermodell errechneten Mengen an Xenon-133 in den Reaktorkernen überein. So könnten die Modelle die Emissionen überschätzen, oder es strömte zusätzliches Gas aus dem Block 5 aus, der nach dem Erdbeben ebenfalls eine Schnellabschaltung durchlief. Vielleicht gab es auch in einem der beschädigten Blöcke eine „Rekritikalität“, das bedeutet, dass nach dem Ausfall der Kühlung wieder eine Kettenreaktion einsetzte, so dass weiteres Xenon-133 entstand.

Cäsium-137 erreichte knapp die Hälfte des Tschernobyl-Wertes

Das Gas hat allerdings eine kurze Halbwertszeit von 5,25 Tagen und verschwindet deshalb in wenigen Wochen komplett. Anders beim radioaktivem Cäsium-137, dessen Halbwertszeit bei 30,17 Jahren liegt. Es verbleibt für viele Jahrzehnte in der Umwelt, für die menschliche Gesundheit ist es deshalb besonders gefährlich. Laut der Studie wurden in Fukushima in den Monaten März und April knapp 36 PBq Cäsium-137 freigesetzt. Diese Menge entsprach zwar nur rund zwei Prozent des Inventars der Fukushima-Reaktoren 1-3 sowie des Abklingbeckens von Block 4 an dem strahlenden Metall. Dennoch erreicht die in die Luft entwichene Radioaktivität gut 42 Prozent des für Tschernobyl geschätzten Werts.

Radioaktive Wolke über Honshu

Die Autoren betrachten auch die Belastung durch radioaktive Niederschläge in verschiedenen japanischen Regionen, ausgehend von den während der Unglückstage herrschenden meteorologischen Bedingungen. Weil Westwinde vorherrschten und es nur wenig regnete, gingen etwa 20 Prozent des emittierten Cäsium-137 über Japan nieder, während 80 Prozent sich über dem Pazifischen Ozean verteilten. Am 14. und 15. März wurde das meiste Cäsium-137 freigesetzt, ein weiterer Tag mit starken Emissionen war der 19. März. Ausgerechnet in dieser Zeit wurde die radioaktive Wolke über den östlichen Teil der japanischen Hauptinsel Honshu verdriftet, wo sich ein großer Teil des strahlenden Materials am Boden ablagerte. Nach dem 19. März gingen die Emissionen dann offenbar wegen der beginnenden Kühlung des Abklingbeckens von Block 4 deutlich zurück.

Glück im Unglück hatten zunächst die rund 36 Millionen Einwohner des Großraums Tokio: Am 15. März zog die dichteste radioaktive Wolke über die Hauptstadt hinweg. An diesem Tag aber regnete es nicht. Zwischen dem 20. und 22. März wurden erneut radioaktive Nuklide über Honshu verfrachtet, von Gebieten nördlich des havarierten Atomkraftwerks bis Osaka im Süden. Starke Niederschläge wuschen praktisch das gesamte in den Wolken vorhandene Cäsium-137 aus.

Katastrophe begann früher als gedacht

Das wohl am meisten Aufsehen erregende Ergebnis der Studie ist indes der zeitliche Verlauf der Freisetzung von Xenon-133. Die Katastrophe begann mit dem Erdbeben der Stärke 9, das um 14:46 Ortszeit die Region um Fukushima erzittern ließ. Der verheerende Tsunami, der das Gebiet schließlich vollständig verwüstete, erreichte die Küste 50 Minuten später. Nach bisheriger Lesart leitete diese Flutwelle die nachfolgende Kernschmelze bei den Reaktorblöcken 1-3 ein. Das Wasser überflutete die Räume mit den Notstromdieseln, so dass diese - bis auf einen am Block 6 - den Dienst versagten. Weil nun der Strom fehlte, fielen die Kühlsysteme der Reaktoren aus, und das Unglück nahm seinen Lauf. Die Kerne der drei Unglücksmeiler schmolzen zumindest teilweise. Mehrere Wasserstoffexplosionen legten die Reaktorgebäude in Trümmer, was zur massiven Radioaktivitätsfreisetzung beitrug.

Die Forschergruppe fand jetzt aber „starke Hinweise“, dass die Freisetzung des strahlenden Edelgases vermutlich unmittelbar nach dem Erdbeben und der Notabschaltung der Reaktoren begann, die um 15 Uhr Ortszeit erfolgte - also lange vor dem Eintreffen des Tsunami. „Dies kann auf strukturelle Schäden in den Reaktorblöcken während des Erdbebens hindeuten“, heißt es vorsichtig in der Studie. Das Xenon-133 könnte als Folge der Notabschaltung aus den Reaktorkernen geströmt und aufgrund der Gebäudeschäden dann ins Freie gelangt sein. Eine andere Möglichkeit sei, dass die mit dem Zustrom kalten Wassers durch das Notkühlsystem verbundene thermische Belastung der Reaktorkerne die Brennstabhüllen beschädigte, was dann die Freisetzung auslöste.

„Das Studienergebnis ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Darstellung der Atomindustrie, der japanischen Regierung, aber auch der deutschen Reaktorsicherheitskommission, wonach das Erdbeben alleine - ohne den dadurch ausgelösten Tsunami - nicht zum Super-GAU geführt hätte, falsch sein dürfte“, kommentiert Henrik Paulitz, Atomexperte der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW, dieses Studienresultat. „Der Versuch der Atomlobby, die weltweit massive Erdbebengefährdung von Atomkraftwerken herunterspielen zu wollen, ist mit der neuen Studie wohl endgültig gescheitert.“ Erweisen sich die Schlussfolgerungen der Forschergruppe als richtig, wären Konsequenzen für die erdbebengefährdeten deutschen Kernkraftwerke wie Philippsburg-2 und Neckarwestheim-2 wohl unausweichlich.