Seit fünf Tagen sind meine Freundin und ich in Van anwesend und werden somit zu Zeugen erschreckender Handlungen, die sich in den deutschen Medien höchstens aus FOCUSonline erahnen lassen. Der Türken-Kurden-Konflikt verhindert die effektive Hilfe für die Einwohner Vans. Nach dem zweiten verheerenden Beben (dem 5,6er) hat sich die Situation dramatisch verschlechtert, und am düstersten sind die winterlichen Perspektiven.
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Es gibt zwei voneinander unabhaengige und nicht kooperierende Hilfskollektive: die staatliche Hilfe mit dem Zentrum 'İl afet ve acıl durum müdürlüğü' einerseits, und die Lokalregierung der kurdischen Partei BDP sowie das Gewerkschaftssyndikat KESK, welche eng zusammenarbeiten, andererseits. Als spontane freiwillige Helfer haben wir beide Strömungen in Aktion erfahren und zeitweise mitgetragen; momentan arbeiten wir mit letzterer zusammmen.

Es gibt allein auf Seiten der BDP/KESK sieben (diese Zahl ist unbestaetigte, aber glaubhafte İnformation, eines selbst gesehen) volle/überfüllte Lagerhallen mit Essen, Kleidung, Decken und Babyartikeln, gespendet von der türkischen/kurdischen Bevoelkerung, und noch immer/erneut zu wenige Freiwillige fuer Ordnung, Verpackung und Verteilung der Güter (vor dem zweiten Beben haben viele Volunteure Van verlassen). Diese unvorstellbaren Mengen an Hilfsgütern - ganz zu schweigen von den staatlichen Lagerungen - verstauben und verrotten, waehrend die Bedürftigen verhungern und erfrieren werden.

(Unter der kurdischen Bevoelkerung ist man sich einig, dass die AKP die gesammelten Hilfsgüter, wie gewohnt, zu Propagandazwecken vor der naechsten Wahl verteilen wird; über den Gebrauch oder Missbrauch der zahlreichen Geldspenden, deren Zugang den kurdischen Lokalregierungen verwehrt werde, bestehe ebenfalls Ungewissheit bzw. kopfschüttelnde Gewissheit - doch diese İnformationen kann ich nicht verifizieren, und ihnen kommt in der aktuellen Situation auch nicht die nötige Relevanz zu.)

Das fuer mich erschreckendste Schicksal, und definitiv eine Medienstory Wert, erwartet die Doerfer um die Stadt Van (zumindest einige Richtung Erciş gelegen). İn Kürze wird der Schnee die Zufahrt zu ihnen für den Rest des Winters versperren, und die Menschen haben bei extremen Minusgraden haeufig nicht einmal Zelte, nachdem ihre Haeuser eingebrochen sind - und selbst in Zelten würden sie den Winter nicht überstehen; benötigt werden Container; davon abgesehen müssen die vom Erdbeben vergrabenen beziehungsweise noch nicht ausreichend angelegten Wintervorraete an Nahrung neu gezeugt werden. Es hat bereits jetzt bis zu minus fünfzehn Grad Celsius in der Nacht, und es schneit.

Die von uns Befragten erwarten keine Helikopterhilfe seitens Ankara für die Dörfer; nach allgemeiner Auskunft der befragten Kurden hilft Ankara nur den türkischen bzw. nicht-BDP-waehlenden Dörfern (das sei nach dem ersten Beben so gewesen, und werde auch künftig so sein).

Wir werden demnaechst selbst in die Dörfer fahren, um uns die Situation anzusehen. Ausserdem versuchen wir, das beste verfügbare Foto- und Videomaterial von den Dörfern aufzutreiben und arbeiten zu diesem Zweck mit lokalen Medien und Privatpersonen zusammen.
Bald werden wir einen englischen Text eines Freiwilligen erhalten, der die Situation in den Dörfern beschreibt.

Den fatalen Kontrast zum evidenten Massenleid bilden die Abschlagungen internationaler Hilfe seitens Erdoğan / der türkischen Regierung, zumindest nach dem ersten Beben. Auch jetzt scheint er weder spezifisch noch bemüht in seinen Verkündungen.

Benoetigt werden erstens Zelte (sehr kurzfristig) und Container, zweitens Freiwillige für die Gütervergabe (waehrend sich laut staatlichen Helfern schon zu viele Freiwillige in Van befaenden, wie uns versichert wurde). İch wünsche mir ausserdem gute ingenieuse İdeen und Ausführungen fuer die Situation in den Dörfern. Fuer all dies bleibt nicht viel Zeit.

Die deutschen Medien schreiben nicht, und wir haben auch noch keine Korrespondenten/Agenten hier auftreiben koennen.

İnternationale Berichterstattung koennte den Druck auf Ankara erhoehen, deutlich internationale Hilfe anzufordern. Ausserdem verdienen die Menschen internationale Aufmerksamkeit, bevor sie bei fehlender Unterstützung in den Trümmern ihrer Dörfer verhungern, vom einsamen Trost erfüllt, bald mit den verstorbenen Verwandten wieder geeint zu sein. Dieses Schicksal wird hier nicht nur von Kurden prophezeit.

Die Dutzenden Freiwillien, die, unter anderem nach Social-Media-Arbeit, aus der gesamten Tuerkei anreisen, benoetigen internationale Unterstützung, um den Hunderten betroffenen Grossfamilien, meist zu den aermsten des Landes zaehlend, das Ueberleben des extremen osttuerkischen Winters zu ermölichen.

Die Einwohner Vans sind dabei nicht nur verzweifelt vor Leid und erschüttert vor Einsamkeit, sondern zunehmend erbost und aggressiv. Je mehr Kinder wir nach ihrem Zukunftsplan befragen, desto mehr künftige PKK-Kaempfer lernen wir kennen. Hier wird eine "Terroristen"generation geboren, wenn internationaler Druck Ankara nicht zur Vernunft zwingt.

Nicht zuletzt verdienen auch die grossen türkischen und kurdischen Minderheiten in Deutschland eine angemessene Berichterstattung aus ihrer Heimat; natürlich verpassen deutsche Medien auch eine Chance im Wettbewerb mit den türkischsprachigen Medien in Deutschland, wenn sie diesen Bedarf ignorieren.

Wir selbst werden nicht mehr viel Zeit hier verbrinen können, weil wir eigentlich auf Reise sind und die Kaelte uns zur Weiterfahrt zwingt. Wir haben den Menschen hier versprochen, alles zu tun, was in unserer Macht steht, um internationale Hilfe zu ermöglichen. Die Welt waere zur Hilfe bereit, sobald Ankara ihren zerstoerenden Stolz überwindet, die Hilfe anderer anzunehmen.

Kontakt: azad_quell@gmx.