Traumata können dazu führen, dass Menschen Erfahrungen in separaten Persönlichkeiten abspalten

Die Persönlichkeitsstörung ist als Leiden anerkannt, einige Kritiker meinen jedoch, die Krankheit werde den Betroffenen nur von ihren Therapeuten suggeriert.

Wenn wir "ich" sagen, ist in der Regel klar, wer gemeint ist. Denn für die meisten Menschen bilden die eigenen Gedanken, Gefühle und Erinnerungen eine Einheit - die Identität. Doch das ist nicht selbstverständlich. Das Gefühl von Identität ist eine Meisterleistung unseres Gehirns. Im Laufe der ersten Lebensjahre baut es aus den genetischen Veranlagungen und Erfahrungen mit der Umwelt ein Grundgerüst der Persönlichkeit, das sich mit jeder weiteren Erfahrung anpasst.

Doch woher weiß unser Gehirn, was zum Ich gehört und was nicht? "Unsere Identität basiert auf unserem autobiografischen Gedächtnis", sagt Yolanda Schlumpf, Neuropsychologin an der Universität Zürich. "Ich weiß, wer ich bin, weil ich Erinnerungen an meine Vergangenheit habe." Schlumpf beschäftigt sich mit Menschen, bei denen die Zuordnung von Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen zu einem einheitlichen Ich nicht funktioniert. Deren Identität zerfällt in viele Persönlichkeitsanteile, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten übernehmen - jeweils mit einem eigenen Namen, Geschlecht und Alter. Auch Stimmen, Gesten und Mimik der verschiedenen Persönlichkeitsanteile unterscheiden sich oft deutlich. Die Anteile können sogar einen individuellen Puls, Blutdruck und eigene Allergien haben.

Bis vor einigen Jahren wurde das Phänomen meist als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Inzwischen verwenden viele Wissenschaftler lieber den Begriff der Dissoziativen Identitätsstörung (DID). Denn zum einen ist eine wirkliche Kernpersönlichkeit nicht vorhanden, und zum anderen ist die "Dissoziation" das markanteste Kennzeichen bei diesen Menschen. Dissoziation ist das Gegenteil von Assoziation und bedeutet "trennen", "auflösen". Der französische Psychiater Pierre Janet prägte schon im 19. Jahrhundert die noch gültige Definition, dass es sich dabei um eine mangelnde Integration der Lebenserfahrungen handelt. Eigentlich zusammen erlebte Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen werden dabei unabhängig und isoliert voneinander gespeichert.

Dass DID häufig mit der Schizophrenie verwechselt wird, liegt daran, dass bei beiden Erkrankungen oft Stimmen gehört werden. Während das bei der Schizophrenie jedoch Halluzinationen sind und die Stimmen irrationale Aussagen machen, sind es bei DID die Stimmen der anderen Teilpersönlichkeiten. Sie sind jeweils ansprechbar und rational nachvollziehbar. Viele DID-Patienten haben außerdem gleichzeitig eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), da beiden Erkrankungen traumatische Erfahrungen zugrunde liegen. Doch nicht alle Betroffenen mit PTBS entwickeln umgekehrt Dissoziationen.

Der Körper nutzt Dissoziation in bestimmten Situationen als schützenden Notfallplan - und zwar besonders dann, wenn eine Erfahrung unerträglich ist. So muss der Betroffene sie nicht als Ganzes in Erinnerung haben und kann (vorübergehend) etwas besser mit ihr umgehen. Es kann etwa sein, dass sich jemand nach einem schlimmen Autounfall zwar an den Hergang erinnert, aber keinerlei Gefühle damit verbindet. Riecht er jedoch Benzin, reagiert sein Körper mit einer Panikattacke. Die Gefühle und Erinnerungen an den Unfall sind einzeln im Gedächtnis verankert.

Menschen mit DID haben zutiefst traumatisierende Erfahrungen gemacht - meist in frühester Kindheit. Frank Putnam vom US-National Institute of Health konnte in einer Studie zeigen, dass 96 Prozent der von ihm untersuchten Betroffenen oft schon vor dem fünften Lebensjahr lang anhaltender sexueller und körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, meist innerhalb des engsten Familienkreises. Oft kam noch Vernachlässigung dazu. Bei solchen Erfahrungen kann es sein, dass immer wieder belastende Alltagserlebnisse in Komponenten aufgespalten werden. Anders würden die Kinder ihr Leben nicht ertragen.

Die ständige Dissoziation führt jedoch auch dazu, dass es keine zusammenhängenden und kohärenten biografischen Erinnerungen gibt, die normalerweise die Grundlage für die Identität bilden. Nach und nach bilden sich Teilpersönlichkeiten aus, die je nach Situation die Kontrolle übernehmen. Jede für sich hat nur beschränkten Zugang zu den Erinnerungen - und muss nur einen Teil der Belastung tragen. "Wenn Multiple in die verschiedenen Persönlichkeitsanteile wechseln, ziehen sie unterschiedliche Gedächtnisschubladen", erklärt Neuropsychologin Schlumpf. Ein multiples System, sagt sie, besteht aus mehreren Persönlichkeitsanteilen, die verschiedene Funktionen übernehmen. Viele Betroffene entwickeln sehr typische Charaktere, wie der Psychiater Colin Ross an 236 Probanden feststellte. Bei 85 Prozent von ihnen traten vier Grundstrukturen auf: die unbeschwerte oder tieftraurige Kinderpersönlichkeit, der oft pubertäre Beschützertypus, die Verfolgerpersönlichkeit mit häufig aggressivem und selbstverletzendem Verhalten sowie der gegengeschlechtliche Charakter, der bei Frauen etwa oft eine Beschützerrolle übernimmt. Acht bis zehn Teilidentitäten entwickelt ein DID-Betroffener im Schnitt. Je belastender die Erlebnisse waren, desto früher werden die Teile gebildet und desto mehr Identitäten insgesamt entwickeln sich.

Das Team um Yolanda Schlumpf testet derzeit die Theorie der "strukturellen Dissoziation". Ellert Nijenhuis vom Mental Health Care Drenthe in den Niederlanden hat sie entwickelt und geht davon aus, dass sich die Persönlichkeitsanteile in zwei Arten aufteilen lassen. Die "anscheinend normalen Persönlichkeitsanteile" meistern das Alltagsleben, wirken oft recht stabil und können sich oft gar nicht oder nur sehr wenig an die zurückliegenden Traumatisierungen erinnern. Diese Teile verdrängen recht erfolgreich, was geschehen ist. "Wenn ein Kind sexuell missbraucht wird, muss es am nächsten Tag irgendwie wieder zur Schule gehen können", sagt Yolanda Schlumpf. "Die anscheinend normalen Persönlichkeitsanteile übernehmen solche Aufgaben, indem sie versuchen, so gut wie möglich zu funktionieren."

Andere Persönlichkeitsanteile hingegen können sich gut an die schlimmen Erlebnisse erinnern. Die sogenannten Emotionalen Anteile sind oft in Alarmbereitschaft, sehr ängstlich und suchen das Umfeld ständig nach Bedrohungen ab. Aktuelle Studien aus Nijenhuis und Schlumpfs Laboren bestätigen, dass es die beiden Arten von Persönlichkeiten gibt und sie sich deutlich unterscheiden - auch im Gehirn zeigt sich je nach Art eine unterschiedliche Aktivität.

Auch wenn die DID vielen bizarr erscheint - immerhin ein Prozent der Bevölkerung entwickelt sie. Dennoch ist die Identitätsstörung bis heute selbst bei Experten umstritten. Kritiker glauben, Therapeuten würden ihren Patienten das Symptombild bewusst oder unbewusst suggerieren und die Patienten im Glauben daran die Teilpersönlichkeiten spielen. Doch die Befunde machen es schwer, das zu glauben. "Bisher konnte niemand belegen, dass das komplexe Krankheitsbild einer dissoziativen Identitätsstörung und die dazugehörenden neurophysiologischen Reaktionen in ihrer Ganzheit und über einen längeren Zeitraum simuliert werden können", sagt Schlumpf.

Die Debatte der Experten um das Phänomen ist ein Grund, warum DID meist erst sehr spät diagnostiziert und behandelt wird - meist vergehen sieben Jahre. Der andere Grund ist, dass die Betroffenen oft selbst nicht wissen oder wahrhaben wollen, dass etwas bei ihnen nicht stimmt. "Sie wissen nicht oder jedenfalls zu wenig, dass es so etwas wie ein durchgängiges Bewusstsein gibt, weil sie es nie anders kennengelernt haben", sagt Yolanda Schlumpf. Oft sind große Gedächtnislücken ein Hinweis. Denn die verschiedenen Anteile können sich an die Handlungen anderer Teilpersönlichkeiten nicht erinnern oder empfinden sie als Handlungen einer anderen Person. Deshalb, so die Neuropsychologin, finden sie sich oft in Situationen wieder, bei denen sie nicht wissen, wie sie hineingeraten sind.

Ist DID diagnostiziert, bemüht man sich in der Therapie darum, die einzelnen Persönlichkeitsanteile einander näherzubringen, denn nicht alle kennen und mögen sich. Damit ist nicht unbedingt eine Fusion gemeint. "Das möchten die einzelnen Innenanteile sehr oft auch nicht, denn sie finden sich alle wichtig", erläutert Yolanda Schlumpf. "Und sie sind ja auch alle wichtig. Jeder von ihnen hat eine Identität, die gelebt werden möchte." Ist eine Annäherung gelungen, kann vorsichtig die Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen beginnen. Dabei versucht der Therapeut, die zerpflückten Erinnerungen Stück für Stück zu integrieren. Es ist ein langer und steiniger Weg dorthin. Doch wenn es gelingt, erreichen Betroffene eine Lebensqualität, die alles, was sie vorher kannten, in den Schatten stellt - im positivsten Sinn.