Fulminanter Auftritt von Alt-Kanzler Helmut Schmidt am SPD-Parteitag: Er warnte vor "leichtfertigem Geschwätz von einer Krise" und vor "deutschnationaler Kraftmeierei". Eine Presseschau.
helmut schmidt
© ReutersEr darf das: Helmut Schmidt zündet sich nach seiner Rede eine Zigarette an – die Genossen schauen auf der Grossleinwand zu. (4. Dezember 2011)

Die Halle in Berlin muss zum Bersten voll gewesen sein, als die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gestern Sonntag zum Parteitag rief. "Die SPD: Neuerdings wieder ein Strassenfeger", kommentiert die Tageszeitung (taz) mit trockener Ironie - denn das Bild des Massenauflaufs dürfte von den Organisatoren bewusst forciert worden sein. Bereits Tage zuvor hatte sich abgezeichnet, dass die Zahl der Anmeldungen die Kapazität der Halle sprengen würde.

Dass die Genossen in Scharen kamen, war einem besonderen Redner geschuldet. Seine Markenzeichen sind das schlohweisse, aber immer noch volle Haar und die Zigarette, ohne die man ihn sich gar nicht vorstellen kann: Helmut Schmidt, der 92-jährige Ex-Bundeskanzler, sprach erstmals seit 13 Jahren an einem Parteitag. Und dann gleich die Eröffnungsrede. Schmidt hatte es nicht immer leicht innerhalb der Partei, auch nicht als Kanzler in den Jahren 1974 bis 1982.

"Die grossen Linien der Politik"

"Aber seit einigen Jahren hat der Alt-Kanzler einen solchen Kultstatus in Deutschland erreicht, dass die SPD-Führung verrückt wäre, würde sie davon nicht zu profitieren versuchen", interpretiert der Kommentator von Spiegel online den Schachzug der SPD-Führung, den König auf dem Altenteil vorzuschieben - gerade im aktuellen Kampf um die Deutungshoheit in der europäischen Krise. Viel Überwindung, so Spiegel online weiter, dürfte dies die starken Männer um Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück nicht gekostet haben, "da Schmidt sich wenig in das Kleinklein der Tagespolitik einmischt, ihn interessieren die grossen Linien der Politik".

Und diese grossen Linien betreffen Deutschlands Rolle in Europa. Die Süddeutsche Zeitung meint: Würden Peer Steinbrück oder die CDU-Kanzlerin Angela Merkel diese Rede halten, "es wäre Zeit, sich gemütlich zurückzulehnen und auf das Ende zu warten. Schmidt macht dagegen innerhalb einer Stunde die Notwendigkeit der europäischen Integration den Zuhörern derart deutlich klar, dass danach Widerspruch kaum noch möglich erscheint."

"Das Geschwätz von der Krise"

Die zweite grosse Botschaft des alten Mannes: Deutschland darf der Versuchung nicht erliegen, Europa zu dominieren: "Deutschland löst Unbehagen und politische Besorgnis aus", sagt Schmidt und warnt mit Blick auf Äusserungen der Kanzlerin und Spitzenpolitikern der CDU vor "schädlicher deutschnationaler Kraftmeierei". "Frontalkritik am Gegner ist halt auch bei einem Alt-Kanzler das süsse Bonbon eines jeden Parteitags", meint dazu süffisant die taz.

Überhaupt sei dieses "Gerede von einer Krise eines Euro" nichts als "leichtfertiges Geschwätz von Medien, Journalisten und Politikern". Wolle Europa angesichts seiner schrumpfenden Bevölkerung und der geopolitischen Entwicklung nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken, dann gehe das nur gemeinsam - "als einzelne Staaten kann man uns am Ende nur noch in Promillezahlen messen", spitzt Schmidt in seiner Rede zu.

"Helmut! Helmut!"

Der alte Mann scheint anzukommen: "Einen solchen Applaus hat es auf einem SPD-Parteitag lange nicht gegeben. Minutenlang, rhythmisch, stehend und begleitet von ‹Helmut! Helmut!›-Rufen", so die Süddeutsche. Schmidt habe geliefert, wo die Kanzlerin, aber auch sein politischer Ziehsohn und möglicher Merkel-Nachfolger Peer Steinbrück versagt hätten: «Er hat die neue ‹europäische Erzählung› geliefert."

ami