Am Tag, an dem Anders Behring Breivik in Norwegen 77 Menschen ermordet, greift Johann Neumüller in Traun zum Gewehr, um ein Massaker anzurichten. Die Geschichte eines Terroristen, über den niemand spricht

Am selben Tag, an dem der Norweger Anders Behring Breivik 77 Menschen ermordet, zieht der ehemalige Soldat Johann Neumüller seine Jagdkleidung an, nimmt sein Kleinkalibergewehr und verlässt seine Einzimmerwohnung in Traun, Oberösterreich, um ein Massaker anzurichten.

Jahrelang hat er sich darauf vorbereitet. Er trägt acht Reservemagazine, ein Schwedenmesser, mehrere Taschenlampen, eine Reservebrille, 1415 Euro in Scheinen und fünf mit Hand beschriebene Zettel bei sich, auf denen Sprüche stehen wie „Für ein Österreich NEU“.

Vor seinem Wohnhaus angekommen, schießt Neumüller, 48, der gebürtigen Rumänin Tamara Holocek*, 57, aus fünf Metern Entfernung in den Rücken. Der nächste Schuss trifft ihren Ehemann Andre*, 63. Er steht gerade am Wagen seines Sohnes Adrian, 37, dessen beide Töchter, sieben und fünf, soeben eingestiegen sind. Das Geschoss dringt durch Andre Holoceks linke Achsel in sein Herz ein.

„Er hat auf südländische Art voll gejammert“, wird Neumüller später sagen: „Ich war es ihm vergönnt, und darum schoss ich noch zweimal auf ihn, als er bereits am Boden lag.“

Nach dem dritten Schuss stürzt sich der Sohn des Opfers, Adrian Holocek*, auf den Schützen. Neumüller stößt dem Familienvater die 9,7 Zentimeter lange Klinge seines Messers in die linke Bauchseite. Holocek kann ihm dennoch die Schusswaffe entreißen.

Das Pech des Johann Neumüller

„Warum?“, ruft er immer wieder, ehe die Polizei eintrifft, „warum hast du das getan?“ Als Johann Neumüller kurz vor 22 Uhr festgenommen wird, sagt er nur: „Es hat sein müssen.“

Die Bilanz des Amoklaufs: ein Toter, zwei Schwerverletzte und eine zerstörte Familie.

Der Zufall, der Neumüller und Breivik am 22. Juli aus demselben Motiv dazu veranlasste zu morden, ist auch das große Pech des Johann Neumüller, der sich just am 26. Oktober, dem Nationalfeiertag, in seiner Gefängniszelle erhängt: Kaum jemand nahm seine blutige Botschaft, in Österreich habe die „Revolution“ begonnen, zur Kenntnis. Sie blieb von Breiviks Taten überschattet.

Die Justiz schloss den Akt kurz nach Neumüllers Ableben. Ob bei der Staatsanwaltschaft Linz, beim Landeskriminalamt Oberösterreich, beim Verfassungsschutz des Landes oder des Bundes - niemand will heute mehr zu dem Fall Stellung nehmen. Ganz so, als hätte es Johann Neumüller, den mutmaßlichen Einzeltäter, der auszog, um Österreich von „Ausländern zu befreien“ und unter rätselhaften Umständen Selbstmord beging, nie gegeben.

Der Fall wirft bis heute brisante Fragen auf: jene etwa, warum Neumüller über ein Kleinkalibergewehr verfügt, obwohl ihm der Waffenbesitzschein bereits im Jahr 2001 entzogen worden war? Sie könnte eine Debatte über das Waffenrecht auslösen. Die Antwort auf die Frage, warum Vertreter der Justiz behaupten, Neumüllers Selbstmord sei „nicht vorhersehbar“ gewesen und es habe dafür „keine Hinweise“ gegeben, könnte sich gar zu einem Justizskandal ausweiten.

Denn Neumüller hatte seinen Suizid selbst angekündigt: „Legt uns (wenigsten’s mir) einen ordentlichen Strick in die Zelle“, flehte Neumüller einen Monat vor seinem Freitod in einem Schriftstück, das den Behörden bekannt war und dem Falter vorliegt. Und zuletzt: War der Oberösterreicher, der Kontakt zur rechten Szene gehabt hat, tatsächlich ein Einzeltäter?

Die Revolution der „Honigbiene“

Diese Fragen lassen Adrian Holocek nicht mehr schlafen, seit er an jenem 22. Juli die sechs großen Schritte gelaufen war. So groß ist die Distanz zwischen der Stelle, an der er aus seinem Auto, und jener, an der er auf Johann Neumüller sprang.

Die Holoceks, Anfang der 1990er aus Rumänien geflohen, waren eine glückliche Familie, vielleicht nicht reich, aber tüchtig. Vater Andre trug Zeitungen aus, Mutter Tamara arbeitete als Reinigungskraft. Adrians Ehefrau machte sich mit einem kleinen Handelsunternehmen selbstständig, er selbst, ein talentierter Handwerker, verdingte sich als Monteur am Bau. Das war vor jenem schwarzen Freitag.

Seit Holocek von seinem dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt heimgekehrt ist, sei ihm das Arbeiten nur mehr schwer möglich, sagt er. In das Auto könne die Familie seither nicht mehr steigen. Seine Mutter Tamara wird wohl nie wieder arbeiten können. Wenigstens schlafen seine beiden Töchter seit einigen Wochen wieder halbwegs regelmäßig.

Niemand ist gekommen, um Adrian Holocek auf den Rücken zu klopfen, weil er einen Amokläufer überwältigt und so dessen Plan durchkreuzt hat, noch weit mehr Menschen umzubringen. Aber darum, versichert Holocek, darum gehe es ihm nicht: „Es geht mir um die offenen Fragen, für die sich seit Neumüllers Selbstmord niemand mehr interessiert“, sagt er. „Und um das Warum.“

Aus den Einvernahmen, die die Ermittler zwischen der Tat am 22. Juli und seinem Selbstmord am 26. Oktober mit Neumüller durchführten, ergibt sich das Bild eines wirren Rassisten, der sich schon „längere Zeit“ auf die Tat vorbereitet habe.

Der spricht von einer „Revolution“, die er seit „zwei bis drei Jahren“ kommen gesehen habe: „Die tanzen uns doch alle auf der Nase herum. Ich meine damit die Ausländer aus der unteren Schicht. Davon haben wir schon viel zu viele und nicht alle sind so wie ich und können sich dagegen wehren“, heißt es in den Protokollen. Er schwadroniert bei den Einvernahmen von der „sozialistischen Utopie von offenen Grenzen und Frieden zwischen den Kulturen“, bezeichnet sich selbst abwechselnd als „Honigbiene“ und „Revolutionär“.

Die Protokolle lesen sich wie eine Mischung aus Stammtischsprüchen, FPÖ-Parolen und Wahnvorstellungen - wirklich außergewöhnlich ist daran nichts: Wie viele alkoholsüchtige Eigenbrötler laufen hierzulande in militärischer Tarnkleidung herum? Wie viele Österreicher achten penibel auf Mülltrennung, nämlich auf die eigene und die der Nachbarn, und schießen in verlassenen Schottergruben zur Gaudi auf Holzscheite? Und wie viele konstatieren an der Theke, dass ihre Geduld mit den Ausländern bald am Ende sei?

Zeitsoldat und Alkoholiker

Zu viele, als dass man hinter jedem von ihnen eine tickende Zeitbombe vermuten würde. Umso dringender stellt sich die Frage, was geschehen sein muss, wenn jemand zu einer solchen Tat schreitet.

Das psychiatrische Gutachten, das die Frage beantworten sollte, wer dieser Johann Neumüller war und warum er diese Bluttat begangen hatte, wurde wegen seines Freitods nie fertiggestellt.

Der Sohn eines Slowenen und einer Österreicherin wurde am 14. Oktober 1963 in Hohenems, Vorarlberg, geboren. Den Vater kannte er kaum, seine Kindheit verbrachte er in einem Heim. Neumüller erlernte den Beruf des Bäckers, musste ihn aber bald wegen einer Mehlallergie aufgeben. In den 1980er-Jahren ging er zweimal für das Bundesheer auf die Golanhöhen. In Österreich jobbte er danach als Lastkraftfahrer.

1996 zog er in eine Wohnung in der Dr.-Konrad-Lorenz-Straße, einer tristen Gegend im Osten von Traun, zwischen Brachen und Bahngleisen gelegen. Mit mehr als 20 Prozent zählt die 25.000-Einwohner-Stadt bundesweit zu jenen Orten mit dem höchsten Anteil an Migranten.

Am 14. Februar 2000 ging Neumüller wieder als Soldat ins Ausland, diesmal in den Kosovo. Es scheint dies auch die Zeit zu sein, in der es in seinem Leben zu einem Bruch kam.

Am Morgen des 6. April 2001 verprügelt er seine damalige Lebensgefährtin. Sie soll ihm in der Nacht zuvor Geld gestohlen haben. Das Verfahren wird bald zurückgelegt, die Parteien dürften sich außergerichtlich geeinigt haben. Dennoch hat der Vorfall Konsequenzen: Der Waffenliebhaber muss seinen Waffenbesitzschein abgeben.

Für die Gutachter gab es damals Hinweise auf „erhöhtes Aggressionspotential“ und „gesteigerten Alkoholkonsum“. Neumüller wird gemäß Paragraf 8 des Waffengesetzes als „nicht verlässlich“ eingestuft. Es scheint, heißt es im Bescheid, „nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit die Gewähr gegeben zu sein, dass der Betreffende eine im Besitz befindliche Faustfeuerwaffe nicht leichtfertig verwendet“. Das Kleinkalibergewehr blieb aber in seinem Besitz.

Denn ein Waffenverbot wird nur ausgesprochen, wenn eine „konkrete Gefahrenprognose“ vorliegt. Da sein Kleinkalibergewehr nur „meldepflichtig“, aber nicht „genehmigungspflichtig“ war, durfte er es behalten, wenn auch nicht aus seiner Wohnung befördern, erklärt Universitätsprofessor Andreas Hauer, einer der renommiertesten Kenner des österreichischen Waffenrechts. Während die Inhaber von Waffenbesitzscheinen alle fünf Jahre kontrolliert werden, blieb Neumüller also zehn Jahre lang unbehelligt, aber bewaffnet. Eine tödliche Gesetzeslücke.

„So etwas darf nicht möglich sein!“, sagt Karl Puchmayr, der Anwalt der Familie Holocek, der überlegt, die Republik auf eine Entschädigung für seine Mandanten zu klagen: „Der Fall müsste eine Diskussion über das österreichische Waffenrecht auslösen“, sagt er.

Zu jener Zeit, als Neumüller der Waffenschein entzogen wird, zerwirft er sich auch mit seinem Bruder, zu dem er seither keinen Kontakt hatte. Seit damals dürfte er die meiste Zeit ohne Beziehung und feste Arbeit verbracht haben und dem Alkohol verfallen sein.

„Ich hatte blöde Gedanken“

Unter jenen, die ihn zumindest vom Sehen gekannt haben, gehen die Meinungen auseinander: Die einen beschreiben ihn als „gutmütig“ und „harmlos“, für die anderen sei die Wahnsinnstat nur eine „Frage der Zeit“ gewesen.

Neumüller selbst antwortete auf das Warum später so: „Es wurde genug geredet, es hörte keiner mehr und es stand an.“

Als er an jenem Freitag gegen 19.15 Uhr vom Wochenendeinkauf heimkehrte, habe er von seinem Fenster aus gesehen, wie die Familie Holocek zu ihren Verwandten auf Besuch kam. Seit Holocek senior vor fünf Jahren sein Motorrad fotografiert haben soll, habe er einen „Pick“ auf ihn gehabt, wird er in der Haft behaupten: „Auf einmal hatte ich blöde Gedanken, ich dachte mir, es kann sein, dass heute der Tag sein kann, wo es für den Mann schlecht ausgehen könnte“, sagte er bei einer Einvernahme. Was er damit meine? „Ich dachte mir, dass ich ihm eine ‚aufbrenne‘“.

Lässt sich solch eine Wahnsinnstat überhaupt verhindern, so der Täter sie nicht offen ankündigt? Und das hat Johann Neumüller den Ermittlungen zufolge nicht getan. Auch Mitwisser soll es keine gegeben haben.

„Neumüller hat in rechten Kreisen verkehrt. Allerdings noch nicht in einem strafrechtsrelevanten Bereich“, sagt ein hochrangiger Polizist, der mit den Ermittlungen vertraut war, aber anonym bleiben will, und fügt hinzu: „Es gibt jedoch keine Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Delikt.“

Dass er und Breivik am selben Tag zuschlugen, soll Neumüller selbst als „zeitlichen Zufall“ bezeichnet haben. Im Vergleich zum norwegischen Massenmörder scheint Neumüller weitaus weniger intelligent, weniger belesen und weniger vernetzt gewesen zu sein, nicht einmal über einen Internetanschluss verfügte er. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: ihren Hass auf Ausländer.

Erinnerungen an Franz Fuchs

Ein Spinner also, ein Einzelner, ein Wütender, dessen Tat nicht zu verhindern war und bald als Fußnote in Österreichs an Rechtsextremismus so reicher Geschichte verschwinden wird? Oder haben die heimischen Behörden nur nicht genau genug hingeschaut, wie die längste Zeit ihre Kollegen in Deutschland?

Dass diese Fragen unbeantwortet bleiben werden, ist die Schuld der Justiz. Denn sie ließ Johann Neumüller, anders lässt es sich nicht sagen, wider besseres Wissen in den Freitod entkommen. Und damit erinnert sein Fall unangenehm an jenen des Rechtsextremisten und Briefbombenbauers Franz Fuchs, der sich einst ohne Hände in seiner Zelle erhängte.

„Weder die Computerbefragung noch die Psychologen im Haus oder eine externe Psychiaterin hätten bei dem 48-Jährigen eine Selbstgefährdung erkannt“, sagte Josef Pühringer, Leiter der Justizanstalt Linz, in der Neumüller untergebracht gewesen war, nach dessen Selbstmord in den Oberösterreichischen Nachrichten. Auch Karl Drexler, der Leiter der Vollzugsdirektion des Justizministeriums, sagte damals, es habe keine Anzeichen für einen Suizid gegeben.

Das ist die Unwahrheit.

Zwei Schriftstücke, die dem Falter vorliegen, beweisen, dass Johann Neumüller seinen Selbstmord sogar angekündigt hatte. So schrieb er am 20. September, fünf Wochen vor seinem Suizid, in einem Ersuchen an die „Regierung“: „Wenn Ihr ‚uns‘ schon nicht in Ketten legen wollt, bzw. erschlagen, so bequemt Euch doch und legt uns (wenigsten’s mir) einen ordentlichen Strick in die Zelle. Dann machen wir (ich) es selber.“

Wen er mit „wir“ meinte, ist unklar. Anscheinend glaubte Neumüller Mitstreiter hinter sich, „aufrechte Österreicher“, die ihn auch aus dem Gefängnis befreien würden.

Zwei Tage später übermittelte die Staatsanwaltschaft Linz das Schreiben an die Justizanstalt: „In obiger Strafsache wird das Ansuchen des Johann Neumüller zur Kenntnis und weiteren Veranlassung (Suizidgefährdung?) übermittelt.“

Der angekündigte Selbstmord

Warum also behauptet die Justiz seither vehement, dass es keine Hinweise auf Selbstgefährdung gegeben hätte?

„Mit dem Schreiben wollte Neumüller nur auf die schlechten Haftbedingungen aufmerksam machen“, sagt Gefängnisleiter Josef Pühringer, der die Existenz der beiden Schriftstücke auf Anfrage bestätigt. Es sei auch zu einem Gespräch mit der psychiatrischen Gutachterin Heidi Kastner, einer Koryphäe auf ihrem Gebiet, gekommen, sagt Pühringer: „Auch sie hat keinen Hinweis auf eine Selbstgefährdung gesehen.“ Kastner selbst darf nichts zu dem Fall sagen. Da der Häftling überdies versucht haben soll, jemanden anzuheuern, der die Zeugen des Mordes umbringe, „mussten wir Neumüllers Handlungsspielraum wegen der hohen Fremdgefährdung einengen“, wie Pühringer sagt. Also Einzelhaft, eine Einladung für Suizidgefährdete.

Tatsächlich verbrachte Neumüller seine gesamte Haftzeit, von wenigen Tagen abgesehen, in einer Einzelzelle, auf „eigenen Wunsch“, wie Anstaltsleiter Pühringer betont.

Von einer „sehr überraschenden Fehleinschätzung“ spricht Patrik Frottier, der europaweit zu den renommiertesten Experten zu Selbstmorden in Gefängnissen zählt: „Ein Häftling, der einen Mord begangen hat, an einer psychiatrischen Erkrankung zu leiden scheint und seinen Selbstmord sogar angekündigt hat, weist alle Risikofaktoren für einen Suizid auf. Wenn er noch dazu ein Amokläufer war, ist er automatisch hochgradig suizidgefährdet!“, sagt Frottier, der den Fall zuvor nicht kannte, in Unkenntnis der beteiligten Personen: „Jedenfalls sollte der Häftling in so einer Situation unter keinen Umständen in Einzelhaft sitzen.“

Johann Neumüllers Vermächtnis

Eine Fehleinschätzung also? Und falls ja, wie kam sie zustande, wo in Österreichs Gefängnissen doch ein ausgeklügeltes System aus Computertests und psychiatrischer Betreuung dafür sorgen soll, dass Häftlinge ihrem Prozess nicht durch Selbstmord entgehen? Wie ist ein angekündigter Suizid möglich, wenn selbst bei einem nicht involvierten Experten sofort die Alarmglocken läuten? Diese Fragen wird die Justiz zu klären haben.

Diese Fragen scheinen auch das einzige Vermächtnis zu sein, das der Nationalist Johann Neumüller hinterlässt, der sich justament am Nationalfeiertag mit seinem Gürtel in einer Einzelzelle erhängte. Seine Revolution, die er am 22. Juli 2011 mit einem Massaker in Traun auslösen wollte, brach jedenfalls nicht aus.

* Namen von der Redaktion geändert