Premier der Exil-Tibeter ruft internationale Gemeinschaft zu Druck auf China auf

Gruppen von Tibetern stürmten die Polizeistation Chenguan im Kreissitz Seda in den tibetischen Gebieten von Südwestchinas Provinz Sichuan. "Der Mob griff mit Benzinflaschen, Messern und Steinen an. Die Eindringlinge verletzten 14 Polizisten. Chinas bewaffnete Polizei schoss scharf zurück", nachdem ihren Angaben zufolge "alle Versuche, den Mob zu zerstreuen und die Anwendung nicht tödlicher Waffen fehlschlug." Dabei sei ein Aufrührer getötet worden. Ein weiterer wurde verletzt und 13 verhaftet.

Mit dieser knappen Schilderung der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua hat Peking erstmals am Mittwoch den Ausbruch von Unruhen mit blutigen Übergriffen auf zwei chinesische Polizeistationen bestätigt.

Xinhua meldete für Montag und Dienstag Angriffe eines "Mobs an Aufrührern" auf die Polizeikräfte in tibetischen Teilen Sichuans. Dabei wurden mindestens zwei Tibeter erschossen. Am Montag hätten die Aufrührer eine Polizeistation im Kreis Luhuo angegriffen, wobei ein Tibeter starb und fünf Polizisten verletzt wurden. Die Übergriffe weiteten sich dann auf die Straßenzüge um die Polizeistation aus. Zwei Polizei- und zwei Feuerwehrwagen wurden beschädigt, der "Mob" hätte Läden und eine Bankfiliale gestürmt.

Der Sprecher des Pekinger Außenministeriums Hong Lei erklärte am Dienstag, dass unter den "Dutzenden Tibetern", die die Polizeistation in Luhuo stürmten, auch "Mönche" waren.

Am Dienstag griffen die Unruhen auf die Chenguan-Polizei-Station in Kreissitz Seda der autonomen tibetischen Ganzi-Präfektur über.

Auslöser für die schwersten Zusammenstöße seit März 2008 seien, so schreibt es Xinhua, "Gerüchte über Selbstverbrennungen von weiteren drei Mönchen gewesen, deren Körper nicht in die Hand der Behörden fallen sollten". Die amtliche Nachrichtenagentur zitierte Tibetologen, die für das Sichuaner Tibet-Institut arbeiten. Sie machen offenbar den Dalai Lama verantwortlich und nannten die Attacken auf die Polizeistationen "vorbereitete und organisierte Gewalt."

Dagegen sprechen Organisationen der Exiltibeter, wie die in London beheimatete International Campaign for Tibet, von massenweisen lokalen Protesten, bei deren Niederschlagung allein am Montag mindestens drei Tibeter getötet und Dutzende durch Schusswaffen verletzt wurden. Andere Angaben sprechen von bisher fünf Toten. Augenzeugen beschrieben eine "Zerstörungswut, die sich gegen alles richtete, was für Chinas Regierung stand oder Han-Chinesen gehörte".

Appell der Exil-Tibeter

Der weltliche Premier der Exiltibeter, Lobsang Sangay, forderte internationalen Druck auf China, um "weiteres Blutvergießen zu vermeiden." Auch eine Koalition von 185 tibetischen Exilorganisationen und Unterstützungsgruppen appellierte an die internationale Gemeinschaft, sie solle auf Peking einwirken, um die Lage zu deeskalieren.

Die neuen Unruhen kommen vor dem Hintergrund einer verstörenden Serie von inzwischen 17 Selbstverbrennungen von Mönchen und Nonnen in den vergangenen elf Monaten. Mindestens neun Personen sollen an ihren Brandverletzungen gestorben sein. Die Mönche sollen vor ihrem Opfergang Parolen gegen Chinas Religionsunterdrückung und für eine Rückkehr des Dalai Lama gerufen haben.

Unabhängige Berichte gibt es nicht aus tibetischen Regionen. Peking hat den Besuch für Journalisten gesperrt. Reiseagenturen meldeten inzwischen, dass Tibets Behörden - so wie im vergangenen Jahr - auch 2012 ausländische Touristen für die Zeit von 20. Februar bis Ende März nicht nach Tibet einreisen lassen wollen. Das ist die Zeit des tibetischen Frühlingsfestes. Im März jähren sich auch die Jahrestage der Volksaufstände gegen die chinesische Oberherrschaft.

Unterdessen hat Peking eine patriotische Propaganda-Kampagne in der tibetischen Provinzhauptstadt Lhasa gestartet. Zum Beginn des chinesischen Frühjahrsfestes am 23. Jänner hängte die Provinzregierung in Lhasa laut Xinhua ein "gigantisches Portrait" der vier Führer Chinas (Mao Tsetung, Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao) vor dem Regierungsgebäude aus. Zugleich ließ die Provinzregierung Millionen nationaler Staatsfähnchen der Volksrepublik China zum Ausschmücken in Lhasa verteilen.

DER STANDARD, Printausgabe, 26.1.2012