Jedes zehnte Kind landet beim Psychiater: Die Krankenkasse Barmer GEK präsentiert alarmierende Ergebnisse einer aktuellen Studie.

Klassische Kinderkrankheiten wie Windpocken, Scharlach oder Röteln sind nach einer Untersuchung der Krankenkasse Barmer GEK in Deutschland kein Problem mehr. „Das haben die Ärzte im Griff“, sagte Vorstandsvize Rolf-Ulrich Schlenker in Berlin. Sorgen bereiten den Experten jetzt andere Krankheitsbilder. Dazu zählen in erster Linie Sprechstörungen und das Zappelphilipp-Syndrom ADHS. Nachfolgend die wichtigsten Erkenntnisse der Studie, die in Berlin vorgestellt wurde.

1. Jedes dritte Kind im Vorschulalter leidet unter Sprachstörungen. Das stellt der aktuelle Arztreport der Barmer GEK fest. In der Gruppe der bis zu 14-Jährigen ist rund jeder Zehnte betroffen. Das sind 1,1 Millionen Mädchen und Jungen. Die Forscher vermuten, dass die hohen Diagnoseraten mit einer verstärkten Aufmerksamkeit und Sensibilität der Eltern, aber auch der Ärzte zu tun haben. Außerdem handele es sich - ähnlich wie bei der Volkskrankheit Burn out - um ein schwer eingrenzbares Krankheitsbild, sagen die Forscher.

2. Bei Jungen ist die Anfälligkeit höher als bei Mädchen. Laut Studie haben im sechsten Lebensjahr 38 Prozent der Jungen eine Sprechstörung, dagegen nur 30 Prozent der Mädchen. Das deckt sich mit pädagogischen Untersuchungen, wonach Jungen besser rechnen können, Mädchen jedoch eine bessere sprachliche Begabung haben. Während 20 Prozent aller fünfjährigen Jungen eine Logopädie-Verordnung zur Behandlung erhielten, waren es bei Mädchen 14 Prozent. Ob damit eine krankhafte Störung oder nur eine verzögerte Sprachentwicklung behandelt wird, ist wegen der schwer fassbaren Diagnose nach Aussage von Experten offen.

3. Die Probleme mit der Sprachentwicklung könnten auf ein immer früheres Schuleintrittsalter zurückzuführen sein. In Baden-Württemberg werden Kinder mit fast sieben Jahren eingeschult, in Berlin mit fünfeinhalb. In Baden-Württemberg sind Sprachstörungen bei Schulanfängern laut Studie seltener.

4. Auch ADHS breitet sich weiter aus. Das Kürzel steht für „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ und bezeichnet das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom: Die Kinder können nicht stillsitzen und stören in der Schule den Unterricht. Wie bei den Sprachstörungen sind überdurchschnittlich häufig Jungen betroffen. So geht mittlerweile jeder zehnte Junge im Alter von neun Jahren zu einem Neurologen oder Psychiater, 60 Prozent davon mit der Diagnose ADHS. Zum Vergleich: Bei neunjährigen Mädchen sind es sechs Prozent, davon rund 40 Prozent mit ADHS-Diagnose.

5. Ostdeutsche Kinder sind von ADHS häufiger betroffen als Kinder im Westen. Laut Studie sind dafür wahrscheinlich Umweltbelastungen mitverantwortlich. Es könnten aber auch psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Die Kasse schließt nicht aus, dass es sich bei den Diagnosen um „Modekrankheiten“ handeln könnte. Verstärkte Aufmerksamkeit von Eltern, Erziehern und Ärzten könnten mit den „auffällig hohen Diagnosen“ zu tun haben.

6. Auch Hautkrankheiten wie Neurodermitis sind häufiger. Mehr als elf Prozent der Kinder bis zu vier Jahren leiden darunter. Bei den null- bis Dreijährigen sind es sogar 16 Prozent. Bemerkenswert sind die regionalen Unterschiede. So erreichen alle ostdeutschen Bundesländer deutlich höhere Diagnoseraten als der Westen. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung waren allergische Erkrankungen im Kindesalter in den alten Ländern häufiger. Für die glatte Umkehrung dieser Entwicklung haben die Experten keine Erklärung.