Zwei Mädchen nahe Moskau nehmen sich das Leben - seitdem diskutiert das größte Land der Erde verstärkt über Selbstmorde von Teenagern. Dabei hält Russland schon lange einen traurigen Spitzenplatz. Behörden sind machtlos, Eltern schauen weg.

Moskau (dpa) - Es ist kein rühmlicher Spitzenplatz: Nirgends in Europa nehmen sich so viele Teenager das Leben wie in Russland. «Wenn wir das Problem nicht an der Wurzel lösen können, verlieren wir eine ganze Generation», warnt Pawel Astachow, der Kinderschutzbeauftragte des Kreml. Die Zahlen sind in der Tat alarmierend: Etwa 1500 Jugendliche töten sich jedes Jahr in Russland selbst, 4000 versuchen es. Die Selbstmordrate unter Teenagern ist etwa dreimal so hoch wie der weltweite Durchschnitt.

Das Problem ist nicht neu. Doch erst jetzt scheint Russland langsam aufzuwachen. Mindestens sechs Jugendliche haben sich innerhalb von nicht einmal zwei Wochen das Leben genommen. «Das ist keine Selbstmord-Epidemie, sondern eine staatliche Tragödie», schreibt Astachow über den Kurznachrichtendienst Twitter. Kremlchef Dmitri Medwedew sei über das Ausmaß entsetzt. Nun soll ein landesweiter Aktionsplan her.

Die Behörden sind hilflos. Auf 48 000 Schulen kommen gerade einmal 16 000 Psychologen. Eltern und Lehrer schauen oft weg: Professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist in Russland ein Tabu. «Drei Viertel der Teenager, die sich umbringen wollen, reden darüber», zitiert die Zeitung Moskowski Komsomolez den Psychologen Jewgeni Ljubow. «Doch leider hört ihnen meistens niemand zu.»

«Die Regierung verschweigt die genaue Zahl der Selbstmorde», klagt der Kinderschutzbeauftragte Astachow. Viele Selbstmorde würden als Unfälle präsentiert. Für 2010 gab das Gesundheitsministerium 983 Suizide von Teenagern an - dabei seien es doppelt so viele gewesen.

Drogenmissbrauch, Prüfungsstress, Liebeskummer, eine zerrüttete Familie, Perspektivlosigkeit, Mobbing im Internet und während der langen Winter das extrem unwirtliche Wetter - alles sind Gründe für Jugendliche, sich umzubringen. Auch Selbstmordbeschreibungen in Romanen berühmter Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski machen Experten für die Teenager-Suizide verantwortlich. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef haben 45 Prozent der russischen Mädchen und 27 Prozent der Jungs bereits einmal über Selbstmord nachgedacht.