Warum war das Beben 2010 in China so verheerend? Warum wurde die Erde zum Katapult? Jetzt beweisen Forscher: Der Boden brach mit Rekordgeschwindigkeit. Auch zahlreiche Metropolen liegen in Regionen, in denen superschnelle Beben auftreten könnten.
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Hamburg - Später erzählten Anwohner von einem unheimlichen Dröhnen, das dem Beben vorausgegangen war. Sie berichteten von einem mächtigen Ruck, der Gebäude aus ihrem Fundament geschleudert habe. In den Morgenstunden des 14. April 2010 erlebte der südchinesische Bezirk Yushu eine Katastrophe, die Rätsel aufgab: Bei dem Erdbeben der Stärke 6,9 starben in der nur mäßig besiedelten Region um die Stadt Qinghai mehr als 2200 Menschen. Zehntausende wurden verletzt, und in manchen Gemeinden wurden die meisten Gebäude zerstört. Wie waren diese ungewöhnlich schweren Verwüstungen zu erklären?

Jetzt liefern Experten eine Erklärung, die böse Befürchtungen nährt: Ein superschnelles Erdbeben habe zugeschlagen, berichten die Seismologen Dun Wang und Jim Mori von der chinesischen Erdbebenbehörde in Wuhan im Fachmagazin Bulletin of the Seismological Society of America. Noch nie wurde ein Riss gemessen, der sich so schnell ausgebreitet hat. Schnelle Beben bedrohen demnach auch andere Regionen - Forscher haben Erdbeben-Highways beispielsweise in den USA, der Türkei und in Tibet identifiziert. Die Erdbebenstärke allein sagt oft noch nicht viel über die Gewalt der Stöße an der Oberfläche.

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Experten hatten bisher ein Tempolimit für Erdbeben angenommen; schneller als mit 10.000 km/h könne der Boden nicht aufreißen, hieß es in Lehrbüchern. Die Geschwindigkeit sei begrenzt, weil der Bruch dem Wackeln des Bodens nicht davoneilen könne - er schien an die sogenannten Scherwellen der Beben gebunden, glaubten Forscher bis vor kurzem. In den vergangenen Jahren jedoch entdeckten Geophysiker, dass sich manche Bebenrisse nicht an das Tempolimit gehalten haben.

Beben geriet in deutsche Radarfalle

Jüngst ermittelten sie, dass 1999 bei dem Beben in der Nordwesttürkei bei der Stadt Izmit ein Bruch sich mit schätzungsweise 18.000 km/h bewegte; es starben mehr als 20.000 Menschen. Computersimulationen aus dem Jahr 2007 zeigten dann, dass superschnelle Beben womöglich mit bis zu 20.000 km/h ausbreiten könnten. Doch der Riss des Bebens von Qinghai in China schoss nun sogar mit Rekordgeschwindigkeit von fast 21.000 km/h durchs Land, also schneller, als es alle Theorien zuließen, berichten Wang und Mori in ihrer Studie.

Der rasante Riss wurde in zwei Messstationen in Deutschland und Australien gemessen: Drei und zehn Sekunden, nachdem ein Schwingungssensor in der Bebenwarte von Gräfenberg in der Fränkischen Schweiz am 14. April 2010 die ersten Wellen des China-Bebens registriert hatte, schlugen die Anzeigen weitere Male aus: Sogenannte hochfrequente Wellen von rund einem Hertz Schwingungsdauer wurden angezeigt, sie verrieten den Erdbebenriss im Süden Chinas. Auch in der australischen Station Warramunga erfasste ein Seismometer die Wellen - dort zwei und fünf Sekunden nach dem Eintreffen der ersten Bebenwellen.

Wie Steinewerfer an einem Teich konnten Wang und Mori aus den Daten nun berechnen, wo und wie schnell der Boden in China aufgebrochen war: Erdbebenwellen breiten sich gleichmäßig in alle Richtungen aus, wie Wellen auf einem Teich, wenn ein Stein ins Wasser plumpst. Am nahen Ufer branden die Wellen eher an. Indem man die Ankunftszeiten der Wellen an mehreren Ufern vergleicht, lässt sich ihr Ursprungsort bestimmen. Je kürzer der Moment zwischen zwei Wellenbergen, desto schneller war die Bewegung. Auf ähnliche Weise ermittelten Wang und Mori, dass die Erde beim Beben von Qinghai mit Rekordgeschwindigkeit aufgerissen war. Die Energie habe die Zerstörungen vermutlich deutlich verschlimmert, schreiben die Forscher in ihrer Studie.

Schockwellen wie beim Meteoriteneinschlag

Der Boden wackele erheblich stärker bei superschnellen Erdbeben, bestätigt Eric Dunham von der Harvard University in den USA. Zusammen mit Kollegen ist er den Extremkatastrophen auf die Spur gekommen. "Wir haben kaum noch Zweifel, dass superschnelle Erdbeben vorkommen," sagt sein Harvard-Kollege Jim Rice. Nach einem Beben in Tibet 2003 erkundeten Forscher die Region. Ihr Geländewagen holperte plötzlich so, als führe er über Treppen - deutlich mehr Erdspalten als bei anderen Beben waren aufgebrochen. Sie verliefen meist parallel zum Erdbebenriss und glichen den Schockwellen nach einem Meteoriteneinschlag.

Rice und Durham erkannten darin die Spuren eines superschnellen Erdbebens. Ihre Computersimulationen zeigen, wie die rasenden Risse entstehen könnten: Die Bruchfront eines Bebens lädt sich mit Spannung auf. Bremsen keine Hindernisse den Riss, beschleunigt er - bis die Spannung einen Tochterriss erzeugt, der dem Mutterriss vorauseilt. Der Tochterriss verursacht eigene Erdbebenwellen, die sich kreisförmig ausbreiten - und schließlich auf die Wellen des Mutterrisses prallen.

Nun passiert etwas Ähnliches beim Überschallknall eines Düsenjets: Die Wellen des Bebens verstärken sich, sie lassen den Boden zerspringen wie eine Glasscheibe. Noch 25 Kilometer entfernt vom eigentlichen Hauptbruch bestehe die Gefahr solcher Sprünge, meint Seismologe Jim Rice.

Bäume wie Geschosse

Das Modell könnte erklären, warum bei manchen Beben die Zerstörungen entlang des Bruches so immens ausfielen. Bei der Katastrophe 1906 in San Francisco etwa sollen entlang des San-Andreas-Grabens Bäume wie Geschosse aus dem Boden katapultiert worden sein. Danach sah es so aus, als habe ein Mähdrescher eine 70 Meter breite Schneise in die Wälder gefräst.

Zu empfehlen wäre, direkt entlang von Erdbebennähten gar nicht mehr zu bauen, sagt Susan Hough vom Geologischen Dienst der USA (USGS). Die Expertin rät zu einem obligatorischen Sicherheitsabstand. Bedroht von superschnellen Erdbeben seien vor allem Regionen, in denen zwei Erdplatten aneinander vorbeischrammen und ein Bruch lange geradeaus verläuft, meinen die Experten. Die meisten Starkbeben ereignen sich hingegen dort, wo sich Platten übereinander schieben.

Gleichwohl bleiben viele Risikogebiete übrig: Eine Weltkarte möglicher Erdbeben-Highways der Forscher David Robinson und Shamita Das von der Oxford University in Großbritannien zeigt 26 Orte, an denen superschnelle Beben drohen (hier die kostenpflichtige Studie): Ein Bruch führt beispielsweise mitten durch San Francisco, ein anderer durch die asiatischen Millionenstädte Rangoon und Mandalay. Andere Metropolen wie Istanbul, Los Angeles, Manila oder Wellington liegen in der Nähe solch gefährlicher Spalten. Die betroffenen Gebiete galten zwar bereits als erdbebengefährdet, die Karte der Erdbeben-Highways aber zeigt, dass die Erschütterungen heftiger ausfallen könnten als angenommen; Hochhäuser könnten wie Dominosteine umgerissen werden. Insgesamt seien 60 Millionen Menschen bedroht, warnen die Forscher.

Nicht nur die auf der Weltkarte verzeichneten Orte sollten mit superschnellen Beben rechnen, das zeigt die aktuelle Studie von Wang und Mori: Der Bruch des China-Bebens von 2010 nämlich war auf der Weltkarte der Erdbeben-Highways noch nicht verzeichnet - doch nun hält er den tragischen Geschwindigkeitsrekord.