Das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst haben 2010 mehr als 37 Millionen E-Mails und Datenverbindungen überwacht. 2009 waren 6,8 Millionen Internet und sonstige Kommunikationen überprüft worden. Für 2011 liegen keine Aussagen vor.
Bild

30 Millionen mehr überprüfte Verbindungen in nur einem Jahr. Eine so exorbitante Steigerung, die angeblich durch das Artikel 10-Gesetz gedeckt ist, muss Gründe habe. Stand oder steht ein bewaffneter Angriff auf die Bundesrepublik bevor? Wächst die Terrorbedrohung, werden mehr Waffen, Drogen oder Personen geschmuggelt?

In all diesen Fällen dürfen die Dienste vom besagten Grundgesetzartikel 10 gedeckt, ihre elektronischen »Staubsauger« einsetzen und eine »strategisch« genannte Kontrolle der Telekommunikationsverbindungen ausüben. Dazu werden bestimmte Begriffe automatisch herausgefiltert. Ohne Anlass, ohne bestimmten Verdacht.

Die 37 Millionen gesiebten Kommunikationsverbindungen sollen in 213 Fällen tatsächlich verwertbare Hinweise für die Geheimdienste gebracht haben. Dabei wird der Nutzen dieses gefilterten Bodensatzes nicht näher erläutert. Doch auch so muss man an der Effektivität der Überwachungsmaßnahme zweifeln, mit der - so heißt es in einer aktuellen Unterrichtung durch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages - »intensiv« in das Grundrecht der Bürger eingegriffen wird.

Die gigantische Ausdehnung der Überwachung sei nicht beängstigend, suggerieren die Dienste und das Bundeskanzleramt trägt diese Schutzbehauptung weiter. »Die zur Selektion unerlässliche Verwendung von inhaltlichen Suchbegriffen, bei denen es sich auch um gängige und mit dem aktuellen Zeitgeschehen einhergehende Begriffe handeln kann, führt unweigerlich zu einem relativ hohen Spam-Anteil, da viele Spam-Mails solche Begriffe ebenfalls enthalten können«, heißt es in dem Bericht. Soll bedeuten: Wer seinem Kumpel mailt, Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel sei »abgegangen wie eine ›Granate‹« bleibt ebenso im Mail-Sieb hängen wie der junge Mann, dem seine Zukünftige erleichtert mitteilt, er habe bei den Fast-Schwiegereltern einen »bombigen Eindruck« gemacht.

»Ein derart grobes Raster wie die Verwendung von Wörtern wie ›Bombe‹ ist ersichtlich ineffektiv und kann wirklich jedermann einer Überwachung aussetzen«, sagt die innenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Gisela Piltz, Sie nennt den Vorgang »rechtsstaatlich fragwürdig«.

»Die Sicherheitsbehörden müssen grundsätzlich die Verhältnismäßigkeit wahren«, wirft die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast ein und will, dass die Suchbegriffe »deutlich präzisiert werden«. Der Innenexperte der Linksfraktion, Jan Korte, fordert, dass die massenhafte, unkontrollierte Ausforschung, »deren Nutzen für die Sicherheit der Bürger nicht belegbar ist«, beendet wird. Das Parlament müsse »eine Überprüfung aller, nicht nur dieser Überwachungsgesetze, die Orwells Visionen weit in den Schatten stellen«, vornehmen.

Ende der vergangenen Woche erst erklärte das Bundesverfassungsgericht eine Vorschrift für verfassungswidrig, die Polizei und Diensten den Zugriff auf Passwörter und PIN ermöglicht. Sie widerspreche dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.