Das erste paläontologische Restaurant serviert in Berlin authentische Steinzeitdiät. Ob sie hilft, ist wild umstritten. Dass sie schmeckt, steht außer Streit.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Weniger noch: Ein edler Wilder unserer Tage verzichtet ganz auf Getreideprodukte. Er verkehrt im Berliner Restaurant „Sauvage“ und rätselt in seiner minimalistischen Lokalhöhle bei Kerzenlicht über die ersatzweise Sättigungsbeilage zum paläontologischen Vorspeisenteller. Was wie gepresste Erde oder ein trockener Putzschwamm aussieht, erweist sich nämlich als durchaus delikat.

Boris lächelt geheimnisvoll: „Der Brotersatz ist unser Heiliger Gral. Wir haben lange nach einer Mischung gesucht, die auch wirklich schmeckt.“ Nur so viel: Es ist Gemüse dabei, Ei, der Samen von Sesam und Sonnenblumen. Im Boden des honigsüßen Birnenkuchens steckt eine Mischung aus Kokosmehl und der brasilianischen Erdmandelknolle. Wer kochen will wie ein Steinzeitmensch, muss eben kreativ sein. Rezepte haben uns die Vorfahren aus dem Neandertal ja leider nicht vermacht.

Alles nur Jux und Tollerei? Von wegen. Für ihre Anhänger ist die Steinzeitdiät eine ernste Angelegenheit. Boris erzählt mit fast missonarischem Eifer von seiner kulinarischen Errettung. Kränklich war der heute 28-jährige Belgier, als er vor vier Jahren nach Berlin zog, um als Fotograf sein Glück zu versuchen. Müde und matt fühlte er sich, der Rücken schmerzte, Schnupfen und Migräne plagten ihn. Bis er im Internet zufällig von der Steinzeitdiät las.

Gene wie bei den Feuersteins.

Sie stammt aus den Siebzigerjahren, geriet durch die Diabolisierung von Fett und den Kreuzzug der Vegetarier fast in Vergessenheit und erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance. Die nicht unplausible Theorie: Millionen Jahre lang bevölkerten unsere Ahnen diesen Planeten. Vom Hominiden über den Homo erectus bis zum Homo sapiens hat sich intellektuell einiges getan. Nur die Ernährung blieb stets die gleiche: Fleisch, Fisch, Kräuter, Wurzeln, Obst und Gemüse. Erst die „neolithische Revolution“ brachte Ackerbau und Viehzucht und damit Brot, Milch und Käse.

Pflanzliche Öle und Zucker kamen noch später dazu. Die 10.000 Jahre, in denen das passiert ist, sind evolutionsbiologisch ein sehr kurzer Zeitraum. Die Gene passen sich so schnell nicht an, heißt es. Wir sind also noch auf Steinzeit programmiert. Und weil wir das neumodische Zeug eigentlich gar nicht vertragen, reagiert unser Körper mit Zivilisationskrankheiten aller Art.

Viele Mediziner und Biologen halten das für Humbug. Hier werde genetische Mutation mit gewöhnlicher Anpassung verwechselt. Zudem gebe es sehr wohl hunderte genetischer Veränderungen seit der Steinzeit, etwa die Laktosetoleranz, die uns Milchzucker verdauen lässt. Und überhaupt beweise die lange Vorherrschaft der „artgerechten“ Nahrung nur, dass sie zum Überleben geeignet war. Sie deshalb gleich für optimal zu erklären sei haltlose Spekulation.


Kommentar: Seltsam nur, dass immer mehr Menschen an Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie z.B. Laktoseintoleranz leiden.

Für ein Kompendium an Studien zum Thema, sei an dieser Stelle Primal Body, Primal Mind von Nora T. Gedgaudas empfohlen.


Aber die Theorie ist für Boris ohnehin nicht so wichtig. Was zählt: Bei ihm hat es funktioniert. Schon nach drei Wochen Paläo-Diät fühlte er sich wie neugeboren. Der Bauch war weg, seine Haut nahm eine gesunde Farbe an, die Haare wurden fester. Kräftige Muskeln traten, als später Lohn jahrelanger Plage im Fitnessklub, endlich zum Vorschein. Und sein Zahnarzt wunderte sich, wohin die Karies plötzlich verschwunden war. Dabei ist ihm klar: Was er da in sich hineinfuttert, „stellt jede Idee gesunder Ernährung auf den Kopf“: kein Vollkorngetreide, tierische statt pflanzlicher Fettsäuren. Er isst nur einmal täglich, dafür heftig und üppig kurz vor dem Schlafengehen, wie die Höhlenmenschen. Vorher hätte er freilich ohnehin keine Zeit.

Ein Sternekoch soll folgen.

Zusammen mit seinem Lebensgefährten, dem Brasilianer Rodrigo, hat Boris im vorigen Mai sein kleines Lokal aufgemacht, mit viel Leidenschaft und wenig Geld. In einem ehemaligen Puff im hintersten Neukölln, einem billigen Kiez der kleinen Leute und türkischen Großfamilien. Doch schon bald pilgerten Gäste aus aller Welt ins weltweit erste paläontologische Restaurant, BBC und al-Jazeera im Schlepptau.

Ab kommender Woche soll ein dänischer Koch mit Michelin-Stern dem Beispiel folgen. Dass sich bisher kein anderer Gastronom an das hippe Thema wagte, hat freilich einen guten Grund: „Die Zubereitung ist höchst aufwendig, wir öffnen nur am Abend und stehen trotzdem ab elf Uhr vormittags in der Küche.“ Schon die Auswahl der Zutaten erfordert den unermüdlichen Elan von Jägern und Sammlern. Mammut und Säbelzahntiger sind leider schon aus. Aber der Fisch könnte dafür wilder nicht sein. Das Rindfleisch kommt aus Argentinien, das Lamm aus Neuseeland. Dort fressen die Tierchen wie eh und je nur Gras und niemals Getreide oder Soja. Deshalb schmeckt es dann auch hoch aromatisch.

Kein Wunder, dass die meisten Gäste weniger wegen der Gesundheit als mehr für den Genuss ins „Sauvage“ kommen. Zum Dank werden sie nicht auf Kräutertee und Wasser gesetzt, die einzig authentischen Getränke der reinen Lehre. Stattdessen erhalten sie Wein und Kaffee („in der Grauzone“) und gnädigerweise sogar Bier („geht eigentlich gar nicht“). Spät verlässt der Homo sapiens culinarius die gastliche Höhle, wie Fred Feuerstein in Feierlaune. Yabba Dabba Doo!

(Die Presse, Print-Ausgabe, 18.03.2012)