Die irrlichternden Piraten markieren einen Tiefpunkt basisdemokratischer Subkulturen. Ihre konsumfixierte Dilettantenkultur ist gefährlich. Und ihre Wähler sind so destruktiv wie die Partei selbst.

Seit die Piratenpartei nicht nur in Umfragen, sondern auch in Parlamenten Sitze gewinnt und bald jeder Dritte im Lande sich vorstellen kann, die Piraten zu wählen, fragen sich viele: Was will der Wähler eigentlich damit sagen? Dass eine Antwort auf diese Frage so schwerfällt, könnte an der falschen Frage liegen.

Viele Wähler wollen vielleicht gar nichts mehr sagen, auch weil sie nichts zum Sagen haben. Und sie wollen auch gar nicht, dass die Piraten irgendetwas sagen. Was könnte das auch sein? Wo immer sich Piraten äußern, geht es vor allem darum, was sie nicht wissen. Statt Durchblick in der Sache führen sie die Forderung nach allgemeiner "Transparenz" im Munde.

Dieser messianisch vorgetragene Dilettantismus kommt als ein Offenbarungsversprechen daher, das ebenso irritieren muss wie die damit einhergehende Umkehrung der Ideale: Maß sich vor dem Auftreten der Piraten ein Politiker an Kompetenz, Autorität und Ausstrahlung, zählt nun das genaue Gegenteil: das graue, namenlose Kollektiv der Nichtsgenauwisser.

Für den Erfolg der Partei sind die Wähler verantwortlich

Das verwirrt nicht nur die Meinungsforscher, deren Kompetenztabellen zumindest in Bezug auf das Piratenphänomen versagen müssen. Weil eben nicht der individuelle Unterschied, sondern die nivellierende Ähnlichkeit zum Erfolgskriterium wird. Nie waren sich Gewählte und Wähler so destruktiv selbstähnlich.

Nun kann man den Piraten sicher vieles ankreiden. Von intellektueller Fahrlässigkeit im Umgang mit dem Institut des Eigentums über sozialpolitische Geisterfahrerei bis zu Geschichtsvergessenheit im Umgang mit dem Rechtsextremismus. Was man ihnen aber nicht vorwerfen kann, ist ihr Erfolg. Denn für den sind in einer Demokratie nun einmal ihre Wähler verantwortlich.

Wobei sich auch wieder eine falsche Fragestellung einzuschleichen droht. Denn die Kategorie der "Verantwortung" scheint weder im Weltbild der Piraten noch in dem ihrer Wähler eine Rolle zu spielen. Vergleichbar der experimentellen Informatik, mit der die Piraten aus ihren Internetmetaphern einen Gesellschaftsentwurf herbeihalluzinieren, scheinen ihre Wähler das Ergebnis ihres Wahlverhaltens auswürfeln lassen zu wollen.

Kopie des althergebrachten Aussteigertums

Das kommt so hochtrabend freigeistig daher, dass der profane Ausgangspunkt der gesamten Bewegung aus dem Blickfeld gerät. Es war schließlich nicht mehr als eine Ladendiebstahlsbewegung, die mit der Forderung nach Austausch gestohlener Musik und Kinofilmen via Internet den Gründungsmythos einer Freiheitsbewegung konstruierte.

Ein harter Kern von Medienjunkies, die eine Enteigungstechnologie zum Paradigma von "Demokratie" und "Freiheit" hochstilisierten. Ein konsum-orgiastisches Experiment als Ausgangspunkt für einen Politikentwurf, der Entgrenzung verheißt, mit einem hohen Anspruch an Unvergleichbarkeit und epochaler Originalität.

Dabei kommt das alles doch sehr bekannt vor. Dergleichen Outlaw-Gehabe kann durchaus als Kopie althergebrachten Aussteigertums nachgezeichnet werden. Denn was beschreibt so eine Haltung der völlig ergebnisoffenen Gleichgültigkeit in grundsätzlichen Fragen der Weltgestaltung besser als die einer grenzenlosen Langeweile und Verdrossenheit?

Zwischen Drogenkultur und Computertechnologie

Dieser Hang zum kollektiven Selbstexperiment erinnert am ehesten an den Einsatz von bewusstseinsverändernden Drogen, wie er in Subkulturen der 1960er-Jahre ff. grassierte. Nur dass jetzt keine Eingriffe in die Körperchemie, sondern Bewusstseinserweiterungen auf (netz-)technologischer Grundlage zum Utopiemedium werden.

Das Bedürfnis nach Entgrenzung schlägt seit den 1970er-Jahren viele Bögen zwischen Drogenkultur und Computertechnologie. Nicht erst seit Timothy Leary und den halbwüchsigen Entrepreneurs der Gründerzeit von Microsoft bis Apple wissen wir um die kulturellen Voraussetzungen moderner Mikrocomputerentwicklung. Diese Verbindung kann ungeheuer produktiv sein - produziert aber eben auch Formen von politischem Autismus, der nur noch in sich selbst hineinhört, weil man neugierig darauf ist, was als Nächstes passiert.

Das muss man sich freilich leisten können. Das hohe Wohlstandsniveau dieses Landes ist dabei sicher eine der Voraussetzungen für das Piratenphänomen. Das völlige Ausblenden jeder Form von Risikofolgeabschätzung für die Konsequenzen einer Mandatierung von Vertretern einer konsumfixierten Dilettantenkultur erscheint darüber hinaus geradezu asozial. Auch der Piratenkult lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Das läuft auf einen als Erweckungslehre getarnten Wohlstandsverbrauch hinaus.

Tiefpunkt an Gestaltungslust und Zukunftsglaube

So kann man dieses Wählerverhalten durchaus als eine Variante von basisdemokratisch maskierter Wohlstandsverwahrlosung betrachten, computergestützt. Dass diese Verwahrlosung eine mediengetriebene ist - noch eine Parallele zu Aus- und Umsteigerkulturen vergangener Zeiten - , macht sie zu einem sich selbst nährenden Prozess.

Auch im sogenannten konventionellen Medienbetrieb. Die Skurrilität der Akteure wird als Unterhaltungsstoff inszeniert. Statt Analyse und Konfrontation oft nur ein "Seht her! Es geht in der Politik zu wie im Fernsehen!" Hauptsache, niemand langweilt sich.

Was bei diesem Anything-goes-Parlando verdeckt bleiben muss, ist ein Zug tiefer Verzweiflung an der Moderne, ohne die der kollektive und vorsätzlich anmutende Orientierungsverlust, wie er die Piratenbewegung kennzeichnet, eigentlich nicht erklärbar ist. In der Tradition basisdemokratischer Oppositionsbewegungen ist damit ein Tiefpunkt an Gestaltungslust und Zukunftsglaube markiert. Wahrlich ein Abstieg.

Diese irrlichternde Bewegung gemahnt in ihrer widerständigen Selbstaufgabe an Schicksal und Niedergang des großen Kabarettisten und Satirikers Wolfgang Neuß. Dessen Biografie zerrann nach Jahrzehnten aufgeweckter Kriegs-, Nachkriegs- und Wohlstandskritik in drogengeschwängertem Verfall. Wir erinnern uns: Am Ende stand sein verzweifelt-chaplinesker Satz: "Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen." So viel scheint klar, diese Lunte brennt noch.