Neun Monate nach Tschernobyl fand man in Westberlin eine erhöhte Zahl von Schwangerschaften mit Trisomie 21. Noch seltsamer: Der Anteil von Mädchen bei den Neugeborenen sank unter den langjährigen Mittelwert. Die offizielle Strahlenmedizin drückt sich bislang um die Erforschung dieser Phänomene.
Gorleben, Castor-Behälter
© dpa/Julian StratenschulteCastor-Behälter (hinten) im Zwischenlager Gorleben
Reichlich ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima und passend zur aktuellen Debatte um ein Endlager für stark radioaktiven Atommüll lud die Deutsche Umwelthilfe (DUH) zu einem Pressegespräch, bei dem noch einmal auf eine Studie von drei Wissenschaftlern aus dem Helmholtz-Zentrum München aufmerksam gemacht werden sollte. Der Biomathematiker und Statistiker Hagen Scherb hatte mit zwei Kollegen bereits vor einem Jahr im Fachblatt »Environmental Science and Pollution Research« über seine Auswertung von Geburtenstatistiken in Deutschland nach dem Super-GAU von Tschernobyl 1986 sowie in der Umgebung des Atommüllzwischenlagers Gorleben seit der Anlieferung der ersten Castor-Behälter mit abgebrannten Kernbrennstäben 1995 berichtet.

Die Epidemiologen hatten ein merkwürdiges Phänomen festgestellt: Das langjährig konstante Zahlenverhältnis zwischen Mädchen und Jungen macht genau neun Monate nach Tschernobyl einen Sprung: Der Anteil der Mädchen sinkt signifikant, um sich ab 1999 wieder zu normalisieren. Zudem fanden die Forscher in einem 40-Kilometer-Umkreis um Gorleben in der Geburtenstatistik ab 1996 sogar einen noch viel größeren Knick bei den Mädchen. Das niedersächsische Landesgesundheitsamt traute den Ergebnissen nicht. Doch die eigene Auswertung der Daten zeigte, dass seit der ersten Einlagerung von Castoren in Gorleben auf 100 Mädchen tatsächlich 109 Jungen geboren wurden, während es zuvor nur 101 waren.

DUH-Sprecher Gerd Rosenkranz sieht in den Ergebnissen gute Gründe, dass der Staat die genauen Ursachen untersuchen müsste, auch wenn die laut Behörden völlig dichten Castoren keine ausreichende Strahlenbelastung für solche Effekte liefern dürften.

Der Humangenetiker Karl Sperling von der Berliner Charité hatte zumindest einen plausiblen Ansatz zur Erklärung zu bieten. Für ihn ist das extrem störanfällige Geschehen während der Verschmelzung der Zellkerne von Eizelle und Spermazelle der Schlüssel. Dabei wird nämlich bei Mädchen eines der beiden X-Geschlechtschromosomen weitgehend abgeschaltet. Wenn eines davon allerdings gänzlich defekt ist (X0), entstehe in der Regel kein lebensfähiger Em-bryo, er stirbt ab. Bei Jungs, wo ein X-Chromosom von der Mutter und ein Y-Chromosom vom Vater zusammenkommen, sei das anders. Als Auslöser solcher X-Defekte kämen die weitreichende Neutronenstrahlung und der Einbau künstlicher radioaktiver Elemente in Zellen in Frage.