Hinter jedem EU-Parlamentarier stehen mehr als zwanzig Lobbyisten. Sie überwachen die Gesetzgebung, drohen Abgeordneten und kaufen Entscheidungen.
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Nennen wir ihn Herrn S. An einem schönen Herbsttag sitzt Herr S. am Place Luxembourg, mitten im Brüssler Europaviertel, verspeist einen Rucola-Salat mit Scampi und trinkt dazu Mineralwasser. »Wein immer erst abends beim Essen«, sagt er. Herr S. geht oft abends essen. Es gehört zu seinem Beruf. Herr S. ist Lobbyist.

Er vertritt einen großen deutschen Konzern. Er mag seinen Job. Und er lobt die EU. Hier hätten viele Politiker ein offenes Ohr für seine Anliegen. Lobbyismus ist für ihn ein Teil der Demokratie. Lobbyisten? Sind wie Fitnesstrainer, die ihre Kunden für den Umgang mit Politikern und Gesetzgebung trainieren. Während er die letzten Salatblätter aufspießt, erzählt Herr S. von seinem Alltag: Erst kürzlich wurde ihm von einem Beamten ein wichtiger Gesetzentwurf der EU-Kommission zugespielt. Vor allen anderen Lobbyisten und vor den Abgeordneten. »Ich weiß das genau«, sagt er. Bei der Konkurrenz, mit der er zufällig zusammensaß, klingelte das Handy später. »Jetzt können unsere Juristen schnell den Änderungsantrag zu dem Gesetz schreiben«, sagt Herr S. Der werde dann von befreundeten Abgeordneten im Parlament zur Abstimmung eingereicht.

Ein ganz normaler Job?

Ein Teil der Demokratie? Tatsächlich gibt es Lobbyisten überall, und überall versuchen sie, der Politik ihre Sicht der Dinge unterzujubeln. Unlängst erst gelang es den deutschen Vertretern der Tabakindustrie, ihre Position zur Tischvorlage der Großen Koalition zu machen. Doch was in Berlin für Aufregung sorgte, kümmert in Brüssel fast niemanden. Hier gibt es keine großen Skandale - auch weil es fast keine Regeln gibt, gegen die verstoßen werden kann. Dafür sind sich Lobbyisten, Beamte und Parlamentarier viel näher als in der deutschen Hauptstadt. Nun aber beklagt Siim Kallas, der zuständige EU-Kommissar, die Brüssler Mauscheleien (siehe Interview). Denn in Brüssel hört er seit geraumer Zeit immer wieder dieselben Vorwürfe: Lobbyisten spielten hier besonders effektiv und unkontrolliert mit der Politik. Sie verlagerten die Gesetzgebung in die Hinterzimmer. Sie kauften europäische Entscheidungen, indem sie den Politikern mit immer aggressiveren Mitteln ihre Interessen unterjubeln. Kurz: Lobbyisten untergraben die Demokratie.

Die Lobbyisten sind ein bunter Haufen. Sie kommen in Brüssel von überall her, viele haben mit einem Praktikum im EU-Parlament begonnen und sind dann irgendwie im Viertel rund um den Place Schuman hängen geblieben. Andere haben ihren Job in der Kommission an den Nagel gehängt, um noch mehr Geld zu verdienen. Wieder andere wurden von ihren Zentralen in die EU-Hauptstadt geschickt. Es gibt Exjournalisten, Expolitiker, Exbeamte - und alle verbindet zweierlei: Sie kennen viele Leute aus vielen Ländern, und sie können mit ihnen reden, meist in mehreren Sprachen. Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass 15000 Interessenvertreter in Europas Hauptstadt aktiv sind. Zum Vergleich: Im EU-Parlament arbeiten 732 Abgeordnete.

Rund um den Place Schuman, ganz in der Nähe des EU-Rates und der EU-Kommission, liegen die Büros der wichtigsten Lobbyisten. Umgeben von schicken Spesenrestaurants wie dem Barbanera, dem Atelier oder dem Vimar residieren hier die Vertreter der Verbände und die Repräsentanten der großen Unternehmen: der Chemieverband VCI und der Industrieverband BDI, die Dependance des Autokonzerns DaimlerChrysler und jene des Chemieriesen BASF. Dazu kommen die Umweltgruppen, Kirchen, Gewerkschaften, Think Tanks, die Städte, Regionen und die Landesregierungen. Der Freistaat Bayern empfängt seine Gäste direkt vor dem Parlament, Spötter nennen das Gebäude nur »Schloss Wahnstein«.

Eine Branche wächst besonders rasant:

die Public-Affairs-Agenturen. Sie heißen Burson-Marsteller, GPlus, Fleishman-Hillard oder Pleon. Ihre Mitarbeiter organisieren für ihre Kunden so ziemlich alles: Sie laden Politiker zu illustren Diners und prunkvollen Empfängen ein, sie organisieren Reisen, Demos und Debatten. Sie entwerfen Broschüren, Internet-Kampagnen oder sogar gleich die Anträge für Gesetzesänderungen. Und sie bleiben selbst meist dezent im Hintergrund.

David Earnshaw ist Direktor so einer verschwiegenen Agentur, sein Name macht allerdings seit ein paar Wochen die Runde. Der 48-jährige Brite kennt sich aus. Er hat in Brüssel schon fast überall gearbeitet: im EU-Parlament, bei der Pharmafirma SmithKline Beecham, an der Universität und sogar bei der Dritte-Welt-Lobbygruppe Oxfam. Vergeblich ist er bei Europawahlen für die britische Labour-Partei angetreten, aus der Zeit bleiben ihm immerhin gute Kontakte zu den Sozialdemokraten. Vor vier Jahren wurde er Direktor bei Burson-Marsteller, einer der weltweit größten Public-Affairs-Agenturen.

Burson-Marsteller wirbt besonders mit seiner Expertise im Gesundheitssektor. Man sei »einzigartig positioniert, in dieser komplexen medizinischen, sozialen und ökonomischen Landschaft zu helfen«. Man helfe dabei, »politische« Fragen und »Regulierungsprobleme« zu lösen, »Kampagnen« zu entwerfen und beim »Pre-Marketing« zu helfen. Im Klartext: Die Agentur kann Pharmafirmen von der Geburt einer neuen Behandlungsmethode oder eines Medikaments bis hin zur Zulassung begleiten. Sie organisiert die freundliche Reaktion der Öffentlichkeit, Sympathie bei der Politik und die entsprechenden Gesetzesänderungen. Einer der offiziellen Ansprechpartner in Brüssel: David Earnshaw.

Earnshaw redet gern. Über die Pharmaindustrie und über Innovationen der Medizin. Derzeit beschäftigt ihn die Stammzelltherapie. Deren Erforschung ist aus ethischen Gründen hoch umstritten, sie könnte der Pharmaindustrie jedoch kräftige Umsätze bescheren. Earnshaw redet über so etwas allerdings nicht als Lobbyist. Er hat es vielmehr geschafft, vom EU-Parlament zum Berater des Umwelt- und Gesundheitsausschusses ernannt zu werden. Als einer von sieben »unabhängigen« Experten darf er zu besonders sensiblen Themen Studien schreiben. Diese werden vom Parlament bezahlt und den Abgeordneten als neutrale Fachinformation geschickt.

Im September fragte die irische Abgeordnete Kathy Sinnott im Ausschuss nach: Wie kann ein Lobbyist zugleich neutraler Experte sein? Earnshaw hatte da gerade in einem Bericht massiv für die neuen Therapien geworben, und Sinnott wollte mehr über die Motive des Autors wissen. Sie bekam die wütende Antwort schriftlich. Gegen seine Sicht der Dinge seien vor allem »religiöse Extremisten«, die lehnten die lebensrettenden Therapien aus ideologischen Gründen ab, schrieb Earnshaw. Im Übrigen gebe es »keinen Interessenkonflikt« zwischen seiner Arbeit als PR-Lobbyist der Industrie und der als Parlamentsberater. Er könne das trennen, er berate derzeit keinen Kunden in Sachen Stammzellen.

Derzeit nicht? Mag sein. Aber mehr als das Versprechen von Earnshaw gibt es nicht. Über die Kunden all seiner Mitarbeiter und Kollegen schweigt er. Earnshaw sagt zu diesem Thema am Telefon den Satz: »Das ist nicht meine Entscheidung.«

»So einfach ist das nicht«, empört sich Olivier Hoedeman von Corporate Europe Observatory. Die Amsterdamer Gruppe, die der Verfilzung zwischen Politik und Wirtschaft nachforscht, wirft Burson-Marsteller die bewusste Verschleierung von Interessen vor - auch bei anderen Themen. Hoedeman: »Wenn es keinen Interessenkonflikt gibt, warum legen sie dann ihre Kundenkartei nicht offen?« In Großbritannien sei so etwas längst üblich.

Claude Turmes ist Abgeordneter. Er sitzt an einem der hinteren Tische im Parlamentsrestaurant. Vor ihm steht ein vegetarisches Couscous, doch der Abgeordnete aus Luxemburg lässt das dampfende Getreide unberührt erkalten. »Dass Lobbyisten uns beeinflussen wollen, ist kein Problem. Das gehört zur Demokratie«, sagt er, schließlich solle sich die Gesellschaft an der Gesetzgebung beteiligen. Dann aber legt der Grüne los. Man wisse einfach viel zu selten, wer aus welchen Motiven handele. Es fehle an Transparenz und an klaren Regeln für die Branche - genau wie für die Politik. Längst dominierten die ökonomischen Interessen die politischen. Der eigentliche Skandal sei die alltägliche Nähe zur Industrie. Schließlich seien die Lobbygruppen der Industrie viel besser finanziert und organisiert als etwa die Umweltgruppen. »Abgeordnete lassen sich ungeniert Gesetzesänderungen von Lobbyisten schreiben«, sagt Turmes. Zu viel davon finde in Brüssel im Halbdunkel statt.

Sie spielen auf Zeit.

Tatsächlich nutzt den Lobbyisten eine Brüssler Spezialität: der komplizierte und langwierige Gesetzgebungsprozess. Entscheidungen reifen über Jahre, und die meisten Bürger können diese Prozesse kaum verfolgen oder verstehen. Die Beamten der EU-Kommission schreiben die Entwürfe. Die Abgeordneten im EU-Parlament drehen sie durch die Mangel. Die nationalen Regierungen debattieren, schreiben um und stimmen ab. Das alles dauert lange. Eine öffentliche Debatte findet aber - wenn überhaupt - oft erst statt, wenn die Richtlinien in den jeweiligen Ländern umgesetzt werden müssen. So öffnen sich für die Einflüsterer viele Hintertüren für die stille Einflussnahme. Ein guter Lobbyist begleitet ein Gesetz oft über Jahre. An allen Stationen redet er mit, wacht, wirbt oder droht.

»Sie müssen die Spur des Geldes verfolgen können«, sagt Craig Holman vom amerikanischen Public Citizen’s Congress Watch. In den USA müssen Agenturen inzwischen offen legen, was und wen sie finanzieren. In Europa ist das anders. Hier muss keine PR-Agentur bekannt geben, für wen sie gerade welche Kampagne mit welchem Geld betreibt. Keine NGO muss über ihre Financiers reden. Lobbyisten dürfen EU-Abgeordnete so oft sie wollen auf Reisen einladen. Nirgendwo lässt sich nachschlagen, wer gerade wen für wie viel Geld in ein Restaurant bittet.

Zwar müssen Abgeordnete weitere Arbeitgeber nennen und bei der Gesetzgebung direkte finanzielle Interessen offen legen. Aber die Höhe des zweiten Gehaltes oder der teuren Einladungen bleibt unbekannt. Ob Abgeordnete private und politische, pekuniäre und ideologische Motive vermischen, ist kaum zu kontrollieren. Natürlich könnte das Parlament sich jederzeit strengere Regeln geben. Aber: Die Mehrheit der Abgeordneten in Brüssel will das gar nicht.

In Berlin, im Café Einstein, trinkt Detlev Samland einen Kaffee. Der Mann kennt alle Seiten. Er war mal Europaabgeordneter, Minister in Nordrhein-Westfalen und ist jetzt Lobbyist von Pleon, einer der großen PR-Agenturen. In seiner Agentur gibt es keinen aktiven Politiker. Samland plädiert für die klare Trennung der Sphären, schon um falsche Verdächtigungen zu vermeiden. Dennoch findet er die Debatte über die bessere Kontrolle von Lobbyisten »bescheuert und scheinheilig«. Wer bestechen wolle, finde immer einen Weg. Wer keine moralischen Prinzipien habe, dem sei auch mit gesetzlichen Regeln nicht zu helfen. Und wer glaube, dass Politiker mit einem Essen oder einer Reise zu bestechen seien, habe ein ziemlich zynisches Bild der Demokratie. Nicht die Vermischung von Interessen sei das Hauptproblem, so Samland, sondern die »Entfremdung von Wirtschaft und Politik«.

Entfremdung? Rolf Linkohr war bis 2004 für die SPD im EU-Parlament und schon damals auf Energiefragen spezialisiert. Er hat das European Energy Forum gegründet, das auf seinen Reisen zu Kern- und Kohlekraftwerken für Abgeordnete immer auch schöne Abstecher einplant. Linkohr ist immer noch dabei, inzwischen allerdings nicht mehr als Politiker. Er sitzt heute im Aufsichtsrat von Vattenfall Europe Mining AG und im Beirat von EnBW - alles Betreiber oder Nutznießer von Kraftwerken. Er hält Reden und veranstaltet Kongresse. An diesem Mittwoch ging es im Berliner Ritz-Carlton um das Thema »Europa investiert wieder in die Kernenergie«.

Linkohr nutzt seine alten Kontakte.

Bei einem energiepolitischen Stammtisch warb beispielsweise der brandenburgische SPD-Europaabgeordnete Norbert Glante vor kurzem für eine neue Position der Sozialdemokraten. Der Tenor: Schluss mit dem Atomausstieg! Er legte ein Papier vor, unterzeichnet von acht Personen: Der Chef der SPD im EU-Parlament Berhard Rapkay tauchte dort ebenso auf wie Linkohr. Die Abgeordneten ruderten erst nach einigem Protest zurück. Linkohr verteidigt sich im Nachhinein: »Man muss doch seine Meinung sagen dürfen.«

Klar darf man das. Nur in wessen Interesse äußert sich wer, äußert er sich? In dem von EnBw? In dem der Atomindustrie? In dem seiner Exwähler? Im deutschen Interesse? Im europäischen? Im eigenen? »Als Linkohr«, sagt Linkohr und tut das nun auch an anderer Stelle. Er ist Sonderberater des EU-Energiekommissars Andris Piebalks, einer von drei Auserwählten. Mit diesem Titel taucht er wiederum auf dem Atomkongress auf.

Industrielobbyisten als Sonderberater der Kommission? »So etwas verstößt gegen unseren Verhaltenskodex«, klagt EU-Kommissar Kallas.Herr S. indes lässt dieser Fall ungerührt. »Na und?«, sagt er. »Die linken Gruppen sollen sich nun mal damit abfinden, dass sie in Brüssel nicht mehr so viel durchsetzen können. Das Klima hat sich eben geändert. In Europa gibt es heute mehr Leute, die Industriebelangen freundlicher gegenüberstehen. Wir sind doch nur die Strohmänner.« Trinkt seinen Espresso. Sagt noch: »Die Bedeutung des guten Essens wird in der ganzen Angelegenheit übrigens heftig überschätzt.« Und geht. Er hat noch einiges vor bis zum Abendempfang.