Roman als Ideengrube für britischen Abhördienst GCHQ

"Big Brother is watching you", hieß es in George Orwells Roman 1984. Der britische Abhördienst GCHQ scheint genauso wie der "Große Bruder" in Orwells Anti-Utopie keinen Verdacht zu brauchen, um Millionen Menschen im Auge zu behalten.
Government Communications Headquarter, gchq
© dpaDie Luftaufnahme zeigt das Government Communications Headquarter in Cheltenham.
Belauschung von Webcams

Die Berichte über die Belauschung von Webcam-Chats durch den britischen Geheimdienst GCHQ weckten nicht nur bei Verschwörungs-Theoretikern schlimme Befürchtungen. Kann es sein, dass ausgerechnet die westliche Welt den düsteren Überwachungs-Visionen aus George Orwells Anti-Utopie 1984 unheimlich nahe gekommen ist? Laut den neuesten Enthüllungen aus dem Fundus von Whistleblower Edward Snowden scheinen Orwells Landsleute beim britischen Abhördienst GCHQ den Roman als Ideengrube entdeckt zu haben.

Orwells Welt hatte die allgegenwärtigen "Telescreens": Bildschirme, die Menschen mit Propaganda überschütteten und zugleich beobachteten. Das GCHQ-Projekt "Optic Nerve" teilt sich mit Orwells Telescreens zumindest eine Grundidee: Die heimliche Bildüberwachung ohne jeden Verdacht.

Millionen Menschen betroffen

Jeder, der seit 2008 den Videochat-Dienst des Internet-Konzerns Yahoo benutzt hat, muss davon ausgehen, dass beim GCHQ Standbilder aus seinen Unterhaltungen gelandet sein könnten. Es geht um Millionen Menschen. Und was ist mit anderen Diensten? Snowdens Unterlagen öffneten bisher nur einen recht schmalen Spalt in die geheime Welt der Netz-Überwachung von GCHQ und seinem großen US-Bruderdienst NSA. Mit dem wachsenden Ausmaß der Enthüllungen scheint nahezu alles denkbar.

"Optic Nerve" führt den Bruch der Privatsphäre mit seinen heimlichen Screenshots in eine neue Dimension. Bislang ging es um das massenhafte Abgreifen von E-Mails, Adressbüchern, Kurznachrichten oder Ortungsdaten. Nun steht in Frage, ob der Geheimdienst Millionen Menschen dabei beobachtet hat, wie sie in ganz privaten Situationen über das Web kommunizieren.

Cybersex

"Unglücklicherweise (...) scheint es, dass eine überraschend hohe Zahl von Menschen die Webcam-Gespräche nutzen, um der anderen Person intime Körperteile zu zeigen", umschrieben die britischen Spione vornehm den beobachteten Cybersex. Der voyeuristische Beifang hilft nicht beim angeblichen Ziel des Projekts - mit Hilfe von Gesichtserkennung zu klären, ob hinter verschiedenen Nutzerkonten die gleichen Verdächtigen stecken. Dafür machen die Bilder viele Menschen zumindest potenziell erpressbar.

Die amerikanische Bürgerrechts-Organisation ACLU (American Civil Liberties Union) sprach umgehend von einer "schockierenden Enthüllung" und sieht dringenden Handlungsbedarf. "In einer Welt, in der es keine technologische Hürde für durchdringende Überwachung gibt, muss das Ausmaß der Überwachungs-Aktivitäten der Regierung von der Öffentlichkeit entschieden werden", forderte ACLU-Jurist Alex Abdo.

"Wir müssen mehr darüber erfahren, was die NSA wusste und welche Rolle sie gespielt hat."

Zugleich warf er die Frage nach einer Beteiligung der NSA auf. "Wir müssen mehr darüber erfahren, was die NSA wusste und welche Rolle sie gespielt hat." Denn laut früheren Snowden-Enthüllungen holt der GCHQ oft für die NSA die Kastanien aus dem Feuer. Dem US-Geheimdienst ist es verboten, Amerikaner zu überwachen. Wenn dies die Briten tun und dann ihre Daten zur Verfügung stellen, hat die NSA zumindest wissentlich keine US-Bürger ins Visier genommen.

Guardian-Reporter Spencer Ackermann schaffte es, die Frage nach der Rolle bei der Webcam-Überwachung nach einer Anhörung im US-Senat NSA-Chef Keith Alexander zuzuwerfen. "Hmm, Webcam. Das ist eine gute Frage", ließ der General nur im Vorbeigehen fallen, berichtete Ackermann.

APA