In diesen Tagen scheint es für die Ukraine nur eine Gewissheit zu geben: diese Messe ist noch nicht gesungen. Dabei beziehen sich die Risiken und Nebenwirkungen längst nicht alleine auf die Ukraine. Man muss die Ereignisse und Abläufe nicht dramatisieren oder überhöhen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Die dramatische Dimension für uns alle in Europa war über Wochen auf dem Maidan-Platz sichtbar, als übergroße polnische Nationalfahnen mit dem polnischen Adler in der Mitte vor der Haupttribüne geschwenkt wurden. Nun wäre es in diesen Wochen und Monaten nicht ungewöhnlich, wenn auf dem inzwischen weltberühmten Platz Fahnen in einer unterstützenden Absicht geschwenkt worden sind. Auch kann man niemanden daran hindern, seine Sympathie für andere auszudrücken, selbst wenn sich diese Ereignisse in einem Nachbarland abspielen. Dabei sollte allerdings darauf geachtet werden, dass die eigene Willensbekundung nicht als Brandbeschleuniger wirkt.

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© Mstyslav Chernov; CC-BY-SA 3.0So agierten Demonstranten auf dem Maidan
Schon die in jeder Hinsicht fragile Ukraine, unbeschadet der Entwicklung auf dem Maidan-Platz, müsste polnische Unterstützung für eine innerukrainische Entwicklung zu höchster Vorsicht und Zurückhaltung veranlassen. Jeder in Europa und darüber hinaus kennt die wechselvolle Entwicklung von Gebieten, die das heutige Territorium der Ukraine ausmachen. Wer unter diesen Umständen mit polnischen Großflaggen auf dem Maidan-Platz sichtbar zündelt, vergreift sich in der Wahl seiner Mittel. Es ist selbstverständlich, dass das demonstrative Schwenken polnischer Großflaggen auf dem Maidan-Platz in Zusammenhang mit Konsequenzen für die territoriale Integrität des ukrainischen Staates gesehen werden muss.

Um welche Dimension für ganz Europa es sich in diesem politischen Erdbebengürtel handelt, wurde bereits 1990 bei den Vier-Augen-Gesprächen bei den Verhandlungen deutlich, die zur Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende des Kalten Krieges geführt haben. Es bestand dabei Einvernehmen darüber, dass nur der dauernde Respekt vor den bestehenden Grenzen östlich der deutschen Ostgrenze und westlich der damaligen sowjetischen Westgrenze eine gedeihliche Entwicklung für Europa möglich machen würde. Eine von Polen ausgehende Entwicklung, die die bestehenden Grenzen in Frage stellen würde, müsste zwangsläufig Auswirkungen auf andere in ihrem Verständnis von der Gültigkeit von Grenzen haben. Büchse der Pandora nennt man das, was von der sichtbaren Demonstration mit polnischen Großfahnen in Kiew ausging. Wer in diesem Teil Europas zündelt, bezieht uns leider alle ein.

Die Ereignisse auf dem Maidan-Platz sind komplex, wie schon die ins Netz gestellten und überaus freimütigen Telefonate zweier hoher Repräsentanten der USA wegen der Entwicklung in der Ukraine deutlich gemacht haben. Die Demonstranten in Kiew und anderenorts waren und sind vermutlich der Ansicht, dass die weitere Entwicklung in ihrem Land von ihnen und den Wählern bei den Mai-Wahlen in der Ukraine abhängen könnte. Nach den abgehörten Telefonaten muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die eigentliche Personalauswahl in Washington vorgenommen werden soll. Eine Gewissheit werden die Menschen in der Ukraine dennoch haben. Washington ist dabei nicht alleine. Man muss nur nach Osten blicken. Wer es gut meint mit der Ukraine in diesen Wochen, muss eigentlich an Berthold Brecht und seinen „kaukasischen Kreidekreis“ denken. Wenn die üblichen Verdächtigen in dem Bemühen weitermachen, sich um die Ukraine zu balgen, dürfte nicht viel von der Ukraine übrig bleiben und nicht nur von der Ukraine.


Das gilt spätestens seit der Konferenz von Bratislava im Frühjahr 2000. Das amerikanische Außenministerium ließ es sich nicht nehmen, vor - unter anderem - einer großen Anzahl hochrangiger Repräsentanten vornehmlich aus ost- und mitteleuropäischen Staaten nach dem Ende des Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien die amerikanischen Perspektiven für die Entwicklung dieses europäischen Kerngebietes vorzustellen. Danach sollte gleichsam von Riga über Odessa bis in türkischen Anatolien eine „Rote Linie“ quer über den gemeinsamen Kontinent gezogen werden. Westlich dieser Linie sollten die USA dominieren, östlich davon die Russische Föderation ihrem Schicksal überlassen werden. Die Aussagekraft dieser Zielvorstellungen ist für die heutige Entwicklung in der Ukraine nicht zu unterschätzen. Dabei sollte man aus aktuellem Anlass nicht alleine an die Rolle des russischen Kriegshafens auf der Halbinsel Krim als Rückgrat für die russische Marinepräsenz an der syrischen Mittelmeerküste denken.

Noch bevor man in Westeuropa darüber nachdenken sollte, was einem wegen der wirtschaftlichen Lage in der Ukraine wegen der offenkundigen Verantwortung für die eingetretene Entwicklung vor die Füße gerollt ist und sich bestimmt nicht bei 35 Milliarden Euro wird festmachen lässt, sollte das dröhnende Schweigen europäischer Kernorganisationen wie des Europarates und der OSZE ein umgehendes Ende finden. Es kann nicht angehen, dass fast hundert Menschen auf dem Maidan-Platz hinterrücks ermordet wurden und Europa schweigt dazu. Es ist seit Tagen überfällig, dass beide Organisationen untersuchen, wie es zu den schrecklichen Vorgängen in Kiew kommen konnte. Das war die europäische Form des Tianmen und dazu hat der Europarat und hat die OSZE nichts zu sagen?