Henryk M. Broder kritisiert die Unentschiedenheit des Bündnisses im Libyen-Konflikt. Der Westen schaut nur zu - wie in Lidice, wie in Srebrenica, wie in Ruanda

Misrata. Den Namen sollten wir uns merken. Er wird einmal in einem Atemzug genannt werden mit Lidice, Oradour, Distomo, Kalavrita, Gorazde, Srebrenica. Es soll, bitte schön, auch niemand sagen, er habe nicht mitbekommen, was in Misrata passiert, weil er gerade damit beschäftigt war, für den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie zu demonstrieren. Eines Tages wird in Misrata ein Denkmal gebaut werden, zur Erinnerung an die Opfer eines euphemistisch "Bürgerkrieg" genannten Massakers an den Einwohnern der Stadt, und dann werden sich alle fragen: Wie konnte es nur passieren?

So wie wir uns heute fragen, wie das Massaker von Srebrenica passieren konnte, während ein Kontingent niederländischer "Peacekeeper" der Vereinten Nationen Gewehr bei Fuß stand und nicht eingriff. Wie wir uns fragen, warum die Großmächte beim Völkermord in Ruanda gelassen zugeschaut haben und erst, als das Blutbad vorbei war, ihr Bedauern über das Geschehen äußerten. Wie wir uns fragen, wieso ein wütender Mob das UN-Büro in Masar-i-Scharif überfallen und sieben Menschen lynchen konnte, während nur wenige Kilometer entfernt, im größten Feldlager der Bundeswehr außerhalb Deutschlands, der ganz normale Kasernenbetrieb weiterging. Derweil Scharen von Historikern immer noch nach einer Antwort auf die Frage suchen, warum die Alliierten die Bahngleise nach Auschwitz nicht bombardiert haben, um wenigstens die Transporte zu stoppen.

Damals freilich waren Informationen schwer zu beschaffen, man war auf Flüchtlinge und Kundschafter angewiesen, die hinter den feindlichen Linien operierten. Heute dagegen findet jedes Blutbad in Echtzeit statt. Um zu wissen, was in Misrata passiert, muss man nur die "Tagesschau" sehen. Die Berichterstattung mag lückenhaft sein, was wir zu sehen bekommen, reicht trotzdem, um das Ausmaß der Katastrophe ermessen zu können. Misrata ist eine belagerte Stadt, deren Einwohner die Wahl haben, gleich zu sterben oder ausgehungert zu werden. Unter diesen Umständen darüber zu spekulieren, ob al-Qaida ihre Finger im Spiel hat oder ein paar Moslembrüder unter den Rebellen sind, ist der reine Zynismus und eine Ausrede fürs Nichtstun. Auch der Widerstand gegen Hitler bestand nicht nur aus lauter diplomierten Demokraten.

Und nun gehen der Nato auch noch die Präzisionswaffen aus. Wie dankbar müssen wir den Russen sein, dass sie uns nie angegriffen haben. Die Nato ist kein Papiertiger, sie ist eine Feldmaus in einer viel zu großen Galauniform. Aber Gott sei Dank gibt es noch die Vereinten Nationen. Die haben gerade ein Abkommen mit dem libyschen Roten Halbmond über humanitäre Hilfe vereinbart. Die Nahrungsmittel, heißt es in einer dpa-Meldung, sollen "in Tripolis und anderen westlibyschen Städten verteilt werden, das umkämpfte Misrata ist nicht darunter". Wie praktisch. So kann Gaddafi seine Anhänger bei Laune halten und dabei auch noch sparen. Er muss ja Waffen kaufen und Söldner bezahlen. Und wir können sagen, dass wir die Libyer nicht im Stich gelassen haben.