Depressionen haben ihren Ursprung nicht allein in der Psyche. Immer deutlicher zeigen Studien: Oft sind Entzündungen im Körper mit im Spiel. Wie stark steuert das Immunsystem unsere Gefühlslage?
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Als die Albträume kommen, ist der tragische Unfall schon ein Jahr her. Kaum eine Nacht vergeht ohne Angst, der 25-Jährige ist ständig rastlos und gleichzeitig unendlich erschöpft. Ist das seine Reaktion darauf, dass er hilflos zusehen musste, wie sein Mitbewohner durch einen Elektroschock starb?

Der junge Mann und sein Psychiater halten das für eine plausible Erklärung, wie der Arzt im Delhi Psychiatry Journal berichtet. In den Schichtaufnahmen des Kopfes entdecken Radiologen aber verschleimte Nasennebenhöhlen. Auf Nachfrage berichtet der Mann von Kopfschmerzen und von seiner verstopften Nase. Und ja, möglicherweise seien die Beschwerden sogar gleichzeitig mit der niedergedrückten Stimmung und der Angst aufgetreten.

Die Ärzte geben ihrem Patienten abschwellende Nasentropfen, Antibiotika und entzündungshemmende Medikamente. Nach fünf Tagen ist nicht nur die Sinusitis ausgeheilt, auch die Angst, die Leere und die Antriebslosigkeit sind verschwunden.

Depressionen durch Infekte und Infekte durch Depressionen?

So außergewöhnlich die Geschichte klingen mag - der Mann ist kein Einzelfall. Auch Zahnwurzelentzündungen, Harnwegsinfekte oder chronische Darmerkrankungen können die Psyche so stark beeinflussen, dass die Betroffenen depressiv werden.

Rheumapatienten erkranken deutlich häufiger als Gesunde an einer Depression, ebenso geht es Menschen mit Multipler Sklerose. "Bis zu der Hälfte dieser Fälle deuten wir als psychologische Reaktion auf die Krankheit an sich", sagt Stefan Gold, Neuropsychiater an der Berliner Charité. "Der Rest der Erkrankungen ist überwiegend biologisch vermittelt." Nicht das Bewusstsein, krank zu sein, löst bei ihnen Trauer aus, sondern die Entzündungen selbst.

Wie eng Krankheit und Psyche miteinander zusammenhängen, zeigt unser alltägliches Verhalten: Wer krank ist, zieht sich zurück, schläft viel und isst wenig. "Ein lapidarer grippaler Infekt bewirkt psychische Veränderungen", sagt Erich Kasten, Neuropsychologe an der Medical School in Hamburg. Experten sprechen vom "Sickness-Behaviour", also Krankheitsverhalten. "Biologisch ergibt das Sinn, denn in Ruhe funktioniert das Immunsystem deutlich besser", so Kasten.

Der Rückzug und die Antriebslosigkeit gehören aber auch zu den Symptomen einer echten Depression. Und eine krankhaft niedergedrückte Stimmungslage macht wiederum anfälliger für Infekte. Die Vermutung liegt daher nahe, dass das Immunsystem auch bei der psychischen Erkrankung eine tragende Rolle spielt. Bedeutet das, dass es bei Depressionen immer auch Entzündungsherde im Körper gibt? Und kann die Verstimmung zukünftig nicht nur mit klassischen Antidepressiva, sondern auch mit Antibiotika und Entzündungshemmern erfolgreich behandelt werden?

Was im Körper bei einer Immunreaktion passiert

"Ob Depressionen selbst eine Infektion oder eine Autoimmunkrankheit sind, ist weder bewiesen noch widerlegt", sagt Neuropsychiater Gold. Biomarker wie etwa für bestimmte Krebserkrankungen gibt es bislang nicht. Bei der Entstehung können genetische, immunologische, hormonelle und psychologische Faktoren ebenso eine Rolle spielen wie der Stoffwechsel auch. "Sicherlich ist nicht jede Depression immunologisch gesteuert", meint Gold. "Aber es gibt eine relevante Untergruppe, die besser identifiziert werden muss."

Tatsächlich steuern die Signalmoleküle der körpereigenen Abwehr nicht nur Blutzellen an und regulieren die Abtötung von Keimen, sie greifen auch in den Stoffwechsel des Gehirns und damit in unsere Psyche ein. Daran beteiligt sind zahlreiche Botenstoffe, vor allem die sogenannten Zytokine. Sie koordinieren das Immunsystem, kurbeln es an oder fahren es herunter. Zu ihnen zählen Interferone, die grob gesagt für die Abwehr von Viren zuständig sind, Interleukine, die für die Kommunikation zwischen den Zellen zuständig sind und Fieber auslösen, und der Tumornekrosefaktor, der entartete Zellen abtöten kann.

Matt, antriebslos und krank durch viele Zytokine

Im Blut von Depressiven konnten Forscher in verschiedenen Untersuchungen deutlich höhere Konzentrationen des Tumornekrosefaktors und bestimmter Interleukine als im Blut von Gesunden finden. Auch bei Menschen mit einer bipolaren Störung fanden Wissenschaftler ähnliche Veränderungen. Von der Höhe der Zytokinwerte aber wiederum auf das Ausmaß der psychischen Beschwerden zu schließen, ist nicht möglich.

Bei der Entstehung einer Depression gehen Mediziner bisher vor allem von einem Mangel an Serotonin aus. Medikamentöse Therapien, die die Konzentration des Hormons künstlich erhöhen, helfen jedoch längst nicht jedem Patienten. Serotonin arbeitet als Botenstoff im Gehirn und wird vom Körper aus der Aminosäure Tryptophan hergestellt, die wir mit der Nahrung aufnehmen müssen. Zytokine aber hemmen die Produktion von Serotonin. Die Folge einer hohen Zytokinausschüttung ist daher: Wir fühlen uns matt, antriebslos, krank.

Aktive Immunzellen im Gehirn

Depressionen oder Burn-out werden häufig mit Stress in Verbindung gebracht. Auch dabei könnten die Zytokine eine wichtige Rolle spielen: Wer gestresst ist, schüttet viel Cortisol aus, und das Immunsystem wird zunächst in Schach gehalten. Auf Dauer nimmt vermutlich die Empfindlichkeit des Körpers für die dauerhaft hohen Cortisolspiegel ab. Die Zytokine werden wieder aktiv, und wir werden krank - und niedergeschlagen.

Einen weiteren Beleg für den Zusammenhang von Entzündungen und Depressionen legten kanadische Forscher kürzlich vor: Sie hatten die Gehirne von Depressiven und Gesunden mittels Positronen-Emissions-Tomografie miteinander verglichen. Dabei zeigte sich deutlich, dass bestimmte Immunzellen bei den Kranken deutlich aktiver waren als bei den Gesunden. "Unsere Ergebnisse liefern den bisher überzeugendsten Beweis für eine Entzündung im Gehirn während einer schweren Depression", sagt Studienautor Jeffrey Meyer vom Center for Addiction and Mental Health in Toronto.

Entzündungshemmer und Antibiotika

Was bedeutet das für die Therapie? Bereits mehrere Forschergruppen haben untersucht, ob antientzündliche Schmerzmittel wie ASS oder die sogenannten Cox-2-Hemmer den Verlauf einer Depression verändern können. Beobachtungsstudien zufolge könnten die Arzneien tatsächlich eine Verbesserung der Symptome mit sich bringen, aber es gibt auch widersprüchliche Ergebnisse.

"Eine Zulassung für die Cox-2-Hemmer bei Depressionen wird es wohl nie geben", sagt Norbert Müller, Spezialist für Psychoneuroimmunologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Firmen schrecken seiner Einschätzung nach vor teuren Studien zurück, weil der Patentschutz der Medikamente bald fällt. "Ich denke aber, dass mindestens 40 Prozent der Depressiven Entzündungszeichen haben", so Müller.

Auch der Einsatz von Antibiotika wie Tetrazyklinen oder von Anti-Tumornekrosefaktor-Arzneien ist derzeit Gegenstand von Studien. "Am Horizont könnte ein spannender neuer Einsatz dieser "alten" Medikamente stehen", schreibt der Psychiater Joshua Rosenblat in einer Metaanalyse im Fachblatt Progress in Neuro-Psychopharmacology and Biological Psychiatry. "Wir brauchen unbedingt neue Therapien für psychische Erkrankungen."

"Leider sind wir noch weit entfernt von einer personalisierten Behandlung der Depression", sagt Stefan Gold. "Aber wenn wir es schaffen würden, die immunologisch bedingten Depressionen besser zu erkennen, wären wir schon einen großen Schritt weiter."

Zusammengefasst: Bei einem Teil der Depressiven spielen Entzündungen im Körper sowie das Immunsystem ein wichtige Rolle. Ob antientzündliche Mittel bei der Behandlung von Depressionen nützlich sein können, wird derzeit erforscht.