Crosstalk: Die 15 Jahre Putins.
RT International, 29.04.2015.

Putin lächelnd Putin smiling
© Unbekannt
Deutsches Transskript. Original (»Crosstalk: Putin’s 15 Years«):


Vorbemerkung des Übersetzers: Drei Leute aus dem inneren Kreis westlicher Institutionen liefern die Erklärungen dafür, woran westliche Massenmedien scheitern oder absichtlich scheitern wollen, um das von ihnen geschaffene Feindbild aufrecht zu erhalten. Es geht um Putins von hiesiger Presse verschwiegene Distanzierung vom Stalinismus sowie die gleichermaßen verschwiegene, gemeinsame Kranzniederlegung auf dem US-Soldatenfriedhof in Arlington zum 70. Jahrestag des Elbtreffens der US- und Sowjettruppen am 24. April. Auch wird unterstrichen: Für die im Westen propagierte Absicht Putins zur Wiedererrichtung eines Sowjetimperiums gibt es keinerlei Belege. Ein weiterer Unterschied zwischen Putin und den westlichen Politikern: Putin ist Offizier. Offizieren geht es um das Land; Berufspolitikern um Partikularinteressen.

Es gibt auch weiterhin in westlichen Institutionen Stimmen der Vernunft, die dem Mainstream-Narrativ aus Gut und Böse widersprechen. Diese Leute dürften bei Victoria Nuland und Euromaidan-Jüngern auf der Abschußliste stehen. Sie hoffen auf die Wahl Hillary Clintons zur nächsten US-Präsidentin, die vieles verschlimmern würde, während Rußland in der Weltpolitik lange nicht so isoliert ist, wie es sich »der Westen« wünscht. Was Putin jedoch nicht gelang: die Eindämmung russischer Korruption.

Es folgt eine leicht gestraffte und teils sinngemäße Übersetzung der Sendung aus dem Englischen. [Gesamt: ca. 3.300 Wörter]

Anmoderation Peter Lavelle: Hallo und willkommen bei Crosstalk, wo alles in Betracht gezogen wird. Ich bin Peter Lavelle. Vor 15 Jahren trat Wladimir Putin die russische Präsidentschaft an. Seit dem kann niemand bezweifeln, daß er im Land seine Spuren hinterlassen hat. Zuhause sehr beliebt und im Westen dämonisiert, präsidierte Putin über Rußlands Transformation: Von einem Land auf seinen Knien wieder zu einer globalen Macht. Was verbleibt auf seiner Agenda?

Zu »Crosstalk: Die 15 Jahre Putins« begrüße ich folgende Gäste: Mary, zuerst zu Ihnen: Sie schreiben seit 15 Jahren über Putin, vom Anbeginn seiner Präsidentschaft, damals, als er noch kommissarisch, Silvester 1999, ins Amt kam. Wie würden Sie ihn beschreiben, seine 15 Jahre, zumindest die ersten 15 Jahre?

Mary Dejevsky: Ich denke, es war eine außergewöhnliche Wandlung: Anfangs wußte praktisch niemand, wer Putin überhaupt war. Inklusive vieler in Rußland, um so mehr außerhalb. Und heute weiß es jeder. Das ist das Werk und die Leistung von 15 Jahren. Was manchmal nicht gesagt wird: Warum Putin nicht nur an der Macht blieb, sondern fast zum Symbol Rußlands wurde. Zu fast jeder Zeit dieser 15 Jahre reflektierte er die Mitte der russischen Meinung. Sucht man nach dem Schlüssel für sein [politisches] Überleben und seiner großen Beliebtheit zu Hause, ist er dort zu finden.

Lavelle: Das ist sehr interessant, denn er ist in der Tat ein Mann des Volkes, was westliche Medien wiederum nicht begreifen können. Betrachtet man das Bild, das die Russen von ihm haben und den Gründen, warum sie ihn mögen, und vergleicht man das mit der Sicht der westlichen Medien und wie sie ihn behandeln, kommt es einem vor wie zwei Spiegel, die zur Unendlichkeit in sich hineinspiegeln: Sie sagen, er ist ein tough Guy, ein harter Typ — und die Russen sagen [Daumen hoch]: Ja! Genau! Diese Art von Präsident wollen wir! Er ist eine Marke, die auf zwei völlig unterschiedliche Betrachtungsweisen stößt und doch inhaltlich ein und dasselbe ist.

Laughland: Ich finde, er kann mit zwei großen politischen Figuren des 20. Jahrhunderts verglichen werden: General Charles de Gaulle und Margret Thatcher. In dem Maße, daß diese beiden Politiker — wie Putin — zu Zeiten außerordentlicher staatlicher Krise an die Macht kamen. Sie stellten die staatliche Autorität und die Würde ihrer jeweiligen Nationen wieder her, insbesondere gegen Partikularinteressen, die diese Staaten Geißel zum Zeitpunkt ihrer Amtseinführung genommen hatten. Im Falle de Gaulles waren diese Partikularinteressen der politischen Parteien; im Falle Thatchers waren es die der Gewerkschaften. Im Falle Putins waren es die der Gangster, oder freundlicher ausgedrückt: der Oligarchen, die während des Jelzin-Regimes Rußland im Ergebnis in die Knie gezwungen hatten. Putin erinnert insofern an diese beiden vorgenannten Figuren, daß ihm nicht nur die Wiederherstellung der Staatsautorität auf der Ebene der Verfassung gelang, sondern auch auf menschlicher Ebene kümmerte es ihn kein bißchen, was seine Peers, seine Amtskollegen (vor allem im Westen) über ihn dachten. Genau wie de Gaulle und Thatcher vielen ihrer Kollegen und vielen ausländischen Politikern mit kaum verborgener Verachtung begegneten, hat Putin es nicht nötig, sich bei anderen Politikern einzuschmeicheln. Er kommt nicht von der gleichen Schule wie sie und er nimmt sich auch nicht sehr viel Zeit für sie. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum er bei denen auf so viel Abneigung stößt, wie Sie in Ihrer Frage andeuten, Peter, ganz besonders im Westen, während er, wie wir alle wissen, zuhause sehr beliebt ist.

Lavelle: Nach Putins Wahl vor 15 Jahren hatte ich einen Auftritt bei der BBC und sie fragten mich nach der öffentlichen Meinung. Ich sagte ihnen, sie sollten Putin mit Gorbatschow oder Jelzin vergleichen. Gorbatschow und Jelzin legten sehr viel Wert darauf, was westliche Politiker von ihnen hielten, während es Putin völlig egal ist. Sie waren sehr erstaunt, und ich fügte hinzu: Putin wurde vom russischen Volk gewählt und das ist das Volk, dem er Rede und Antwort stehen und als Präsident dienen muß. Persönlich hat er meines Erachtens in den letzten 15 Jahren einen ziemlich guten Job gemacht.

Lozansky: Wie die Russen ihn sehen, ist für Putin in der Tat sehr wichtig: Ob sie ihm vertrauen, ob sie ihm folgen. Aber an der westlichen Front sehe ich Putin verwaist. Da ist es doch überraschend, daß er nach all den Beschimpfungen und Dämonisierungen noch immer von »unseren amerikanischen, unseren westlichen Freunden« spricht. Er begann seine Präsidentschaft mit dem Angebot großzügiger Hilfe für die USA in ihrem Afghanistan-Krieg. Er hält daran fest und wiederholt: Sobald der Westen bereit ist, mit uns zusammenzuarbeiten; sobald sie uns anrufen und sagen, sie brauchen Hilfe: Wir sind für Euch da! Das ist beeindruckend, denn normalerweise wird man selbst ausfallend, wenn man provoziert und beleidigt wird. Er ist offen für eine Zusammenarbeit mit dem Westen und ich fände es an der Zeit, daß Obama das endlich versteht, denn wir haben im Moment sehr viele Probleme: Naher Osten, Libyen, Irak, EU, Ukraine — statt Putin weiter zu dämonisieren und herzumzuschubsen sollten wir ihn besser um Hilfe fragen.

Lavelle: Mary, sieht man auf den russischen Wahlkalender, könnte er für weitere neun Jahre Präsident sein, sofern er nochmals kandidiert. Ich weiß nicht, wie man sich in neun Jahren an Obama, Cameron, Hollande und wie sie alle heißen erinnern wird. [Putin] könnte da noch da sein. Für mich ist es eine große Debatte, denn ich wohne hier [in Moskau] und habe seine gesamte Amtszeit miterlebt. Ist der Zug abgefahren? Kehrt Rußland dem Westen nun den Rücken zu? Der Westen will schließlich nicht mit Rußland kooperieren. Oder wartet Putin einfach nur, um später zu sagen: Hey, vielleicht sollten wir doch wieder anfangen, ernsthaft miteinander zu reden?

Dejevsky: Ich bin nicht so sehr wie Sie davon überzeugt, daß Putin noch weitere neun Jahre im Amt sein wird. Das könnte mit einem potentiellen Stimmungswandel in Rußland zu tun haben. Es hat aber auch mit Putins Temperament zu tun: Ich bin einfach nicht davon überzeugt, daß er eine weitere Amtszeit will. Noch eine Bemerkung zu John Laughland und dem Vergleich mit de Gaulle: Putin wäre begeistert, davon zu hören. Ich sah mir nochmal einige Interviews an, die er kurz nach seiner Amtsübernahme als kommissarischer Präsident Rußlands gab. Er wurde gefragt, welche internationalen Politiker er am meisten bewundert. De Gaulle war auf seiner Liste ziemlich weit oben. Ich glaube, es hat mit der Personifizierung der Nation zu tun und dem Handeln im Interesse des Landes, die Förderung des nationalen Interesses, ist es doch sein Mutterland.

Lavelle: Es gibt eine weitere Figur aus dem 20. Jahrhundert, mit dem man Putin vergleichen könnte: Franklin Delano Roosevelt. Er wurde zu extremen Krisenzeiten Präsident. Es hätte [in den USA] eine kommunistische oder faschistische Revolution geben können. Viele Leute wissen nicht, welches Pulverfaß die USA in dieser Zeit [1940er] gewesen ist. Querbeet glaubten die Leute an ihn. Nicht, weil er großartige Entscheidungen fällte. Das tat er mitnichten, sondern weil er eine Führungsfigur war. Genau das wollen die Russen: eine Führungsfigur. Ich glaube, genau das haben die Europäer und Amerikaner des 21. Jahrhunderts aus dem Blickfeld verloren.

Laughland: Eigentlich glaube ich, daß alle Länder eine Führungsfigur wollen. Ich denke nicht, daß Rußland da auf verlorenem Posten steht. Vielmehr kommt es allen Ländern gut, politische Führer zu haben, die ihre Finger am Puls der öffentlichen Meinung haben und die öffentliche Stimmung verkörpern. Putin hat das geschafft. Was mich beeindruckte, als ich ihn 2007 auf dem Valdai-Diskussionsforum traf, war seine deutliche Kritik an Ideologien. Er distanzierte sich in aller Deutlichkeit von der Ideologie als treibende Kraft hinter politischer Willensbildung. Er zitierte Lenin, aber um ihn kritisieren: Lenin war nicht interessiert an Rußland, sondern an der Weltrevolution. Putin zitierte Lenin, um zu zeigen, wie schädlich Ideologie für einen Staatsmann sein kann. Putin sagte: »Ich bin nicht ideologisch. Ich bin pragmatisch.« Darauf spielte auch Edvard an, daß Putin trotz aller persönlicher Angriffe und Dämonisierungen aus dem Westen — zumindest vordergründig [Lavelle lacht] — bereit ist, mit anderen zusammenzuarbeiten. Er ignoriert die Feindseligkeiten und nimmt eine praktische Sicht der politischen Situationen ein.

Lavelle: Ich stimme zu, daß Putin Ideologien nicht mag, denn sie sind wie Schubladen. In den 15 Jahren seiner Amtszeit, in der er zweitweise Premierminister war, wurde er hinsichtlich seiner Rhetorik und Symbolik doch etwas konservativer — wieder im Einklang mit der Gefühlswelt der Bevölkerung Rußlands. Seit ich hier lebe stieg die Popularität der orthodoxen Kirche Jahr für Jahr und die politische Elite hat darauf reagiert.

Lozansky: Natürlich. Für ihn ist es von absoluter Wichtigkeit, wie die russischen Leute ihn sehen. Vor kurzem beeindruckte mich ein weiteres seiner Interviews. Er sagte: Stalins Regime war — unter dem Versuch einer Übersetzung ins Englische — abstoßend und barbarisch. Es ist interessant, das aus dem Mund von jemandem zu hören, der der westlichen Meinung zufolge das stalinistische und sowjetische Imperium wiederherstellen möchte. Das ist beeindruckend. Er sagte: Das stalinistische Regime war abstoßend und barbarisch. Natürlich hat das im Westen niemand mitbekommen. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber von Zeit zu Zeit vernehme ich in Washington einen Wind of Change: Vor einigen Tagen feierten wir [auf dem Arlington-Friedhof] das 70jährige Jubiläum des Elbtreffens, als amerikanische auf sowjetische Truppen stießen. Und wissen Sie, wer da war, mit uns zu feiern? Victoria Nuland.

[Pause/Programmhinweise]

Lavelle: Es gibt so viele Mißverständnisse über Putin: Sein Verhältnis zur Sowjetunion, das zur kommunistischen Ideologie, das zu Stalin, zu bestimmten Denkmälern. Vielleicht, weil der Westen feststeckt? Wie er Rußland sieht? Man kann dort so viel wichtiges nicht voneinander trennen. Mary, was wird Ihrer Ansicht nach hinsichtlich Putin mißverstanden?

Dejevsky: Da gibt es zweierlei. Zum einen wird er ausschließlich als starker Führer wahrgenommen, geradezu wie ein Diktator oder ein Zar. Ich halte das für grundfalsch. Ja, er projiziert ein Bild der Stärke, aber die eigentliche Macht, die er als russischer Präsident ausübt, ist stark begrenzt. Teilweise durch das Gesetz und die Verfassung, aber vielmehr noch durch die Macht der Regionen [in der Russischen Föderation]. Es ist für jeden an [föderalen] Stellen der Macht in Rußland enorm schwer, Macht auszuüben. Da gibt es ein sehr verzerrtes Bild. Das zweite Mißverständnis ist das Verhältnis zur Vergangenheit. Es ist sehr schwer für die Leute, in ihrer Gedankenwelt gleichzeitig unterzubringen, daß Putin ein Patriot ist, der zugleich mit gemischten Gefühlen auf Rußlands Vergangenheit zurücksieht. Etwa Stalin, der für Lager verantwortlich war, für — wie bereits gesagt — barbarische Ungeheuerlichkeiten, für das Leiden der russischen Bevölkerung, aber zugleich für den Sieg [pro-russischer US-Propagandafilm, 1943], der demnächst gefeiert wird, den er als Höhepunkt russischer und sowjetischer Geschichte sieht. Ich finde, viele Leute begreifen nicht, daß diese beiden Dinge nicht nur in Putin existieren, sondern in den Köpfen vieler, vieler Russen seiner Generation.

Lavelle: Mary traf da den Nagel auf den Kopf, die Mentalität und die Ausblicke vieler, die heute in diesem Land leben. Gibt es für Sie, John, noch weiteres, das falsch aufgenommen wird? Es schaut so aus, als »wolle er die Sowjetunion wiederaufbauen«, »das russische Reich wiederaufbauen« — wenn ich das höre, muß ich zurückfragen: Wo sind Eure Belege? Das ist doch bloß ein weiteres Mißverständnis!

Laughland: Für solche Argumente, die Sowjetunion wiederaufzubauen, gibt es keinerlei Grundlage. Das ist nur kindischer Unsinn. Ich stimme Marys Einschätzung über die Begrenztheit der Macht des russischen Präsidenten weitgehend zu. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Einer der Gründe für diese Mißverständnisse — und da muß ich zurück zu meinem Vergleich mit de Gaulle und Thatcher: Wie jeder weiß, verbrachte Putin einen Großteil seiner Karriere beim KGB. Der KGB war durch und durch eine militärische Organisation mit militärischen Rängen und Dienstgraden. Kurzgefaßt: Putin ist ein Produkt der Offiziersklasse. Und die Offiziersklasse ist sehr unterschiedlich zur Politikerklasse, der jeder andere (westliche) Politiker und Führer entstammt. Weil Putin aus dieser Offiziersklasse kommt, hat er eine ganz andere Ethik, ein ganz anderes Berufsverständnis: Dem Staat dienen und den Staat wiederaufbauen, wenn er wiederaufgebaut werden muß. Seine Politik ist sehr auf lange Frist aufgelegt. Und da können wir wieder über Leistungen und Erreichtes sprechen: Die [Wirtschaftspolitik] könnte man kritisieren, aber Putins Augenmerk liegt auf nachhaltige Reformen, mit Blick auf Demographie, die lange Zeit ein großes Problem war und ebensolange brauchte, wieder in Ordnung gebracht zu werden. Da gibt es aber auch noch das Militär, die modernisierte Bewaffnung, wenn man so will, die Strukturreform. Dies sind Themen, die allgemein nicht auf die Agenda westeuropäischer oder US-amerikanischer Politiker kommen, denn unsere Länder hatten eine viel größere Periode politischer Stabilität — im Gegensatz zu Rußland, das [in den 90ern] durch postrevolutionäre Wirrungen schwer geschädigt wurde. Wie gesagt: Ich sehe ihn als Wiederaufbauer des Staates. Und weil das Gerede vom »[starken] Staat«, besonders in Europa stark außer Mode gekommen ist, dürfte dies ein weiterer Grund für die vielen Mißverständnisse sein.

Lavelle: Edvard, Sie wohnen in Washington und schlendern durch die Flure der Macht, des US-Kongresses. Was hören Sie so von Abgeordneten über die Mißverständnisse hinsichtlich Putin und Rußland?

Lozansky: Ich glaube nicht, daß das US-Establishment Putin mißversteht. Ich glaube vielmehr, daß sie ihn hassen. Sie verstehen nämlich, daß er für Rußlands Interessen steht. Natürlich hätten sie in Washington lieber einen der sagt: Yes, Sir! Jelzin und sogar Medwedew wurden sehr gemocht, weil sie eher geneigt waren, »ja« zu sagen. Putin sagt aber nur manchmal ja und manchmal nein, da er im Interesse seines Landes handelt. Das ist keine Situation, die Washington gerne hinnimmt. Vielleicht ist es an der Zeit, daß Washington neue, andere Töne anschlägt und begreift, daß Rußland hilfreich sein kann. Wenn man weiterhin Putin dämonisiert, wird das nicht nur Rußland verletzen, sondern auch westliche Interessen. Wir sehen es doch gerade.

Lavelle: Was wäre dafür nötig? Ich sage an dieser Stelle seit einem Jahr: Wenn man einmal anfängt, Putin mit Hitler und anderen Despoten zu vergleichen, kann man sich nicht hinsetzen und mit ihm reden. Diese Art Politik ist doch unreife und kindische Staatskunst. Es gibt zwar Wahlkampfrhetorik, aber irgendwann sind dann Wahlen und eine Amtseinführung, und dann gibt es da ein Land mit fast 150 Millionen Leuten, mit Atomwaffen, einer großen Wirtschaft und viel Geld auf hoher Kante — will man es ignorieren? So lebt man doch nicht in der realen Welt?

Dejevsky: Ich stimme Ihnen weitgehend zu. Die seit anderthalb Jahren anhaltende Rede davon, Rußland sei isoliert, wurde leicht übertrieben. Im Westen wird viel Lärm gemacht: um Sanktionen, um wirksame Sanktionen, das Herauslösen Rußlands aus internationalen Treffen, der Ausschluß aus den G8/G7, was auch immer. Aber eigentlich, hinter den Kulissen, im Gesamtbild globaler Politik, gibt es Rußland immer noch. Rußland kappte nie die Verbindungen oder brach seine Unterstützung ab, die es den USA und Großbritannien gab, bei ihrem Abzug aus Afghanistan. Dieser Abzug verlief nach Plan mit viel schwerem Gerät durch Rußland und mit Rußlands Hilfe. Rußland beendete nie seine Mediationsbemühungen mit Syrien, die hintergründigen Gesprächskanäle blieben offen — wofür Rußland zu großem Teil verantwortlich ist. Gleiches gilt für den Iran. Sollte eine Einigung über ein Atomabkommen gelingen, wäre dies nie möglich gewesen, wenn Rußland es torpediert hätte. Das tat es nicht. Dies lief alles wie gehabt weiter, aber darauf schaut man nicht so gerne. Denn es würde ja nahelegen, daß die vom Westen suggerierte Isolation Rußlands alles andere als völlig ist, was sie ja gerne denken.

Lavelle: John, ich argumentierte ja immer, daß die »Isolation« eine besondere Geisteshaltung auf den Gängen der Macht ist, in Westeuropa und in den USA. Rußland ist in der Welt kaum isoliert, und die Welt wächst: Wenn man dort sein will, wo es abgeht, sollte man in der BRICS-Welt sein. Im Kern geht es doch nur um den Bürgerkrieg [in der Ukraine], wenn es im Westen um Rußland geht. Da gibt’s Leute wie Victoria Nuland. Sie ist kein Mythos, sie ist ganz real. Und sie will doch jegliche Zusammenarbeit des Westens mit Rußland behindern und unterbinden: in Sachen Afghanistan, Syrien, Ukraine, in allem. Sie will Rußland nicht am Tisch sehen, koste es, was es wolle. Sehen Sie sich ihre Congressional Testimony [Aussage vor dem Auswärtigen Ausschuß des US-Kongreß] an: Sie will den Krieg! Wir sind im Krieg, in einem hybriden Krieg mit solchen Leuten. Ich finde das sehr schwer zu ändern, egal welche Regierung in Washington ins Amt kommt, in London etc.

Laughland: Ja, es könnte sogar schlimmer werden, und wenn Hillary Clinton zur US-Präsidentin gewählt wird, wird es schlimmer. Barack Obama tritt im Moment relativ stark auf die Bremse hinsichtlich übelster Bestrebungen in Washington. Ich finde, die Isolation Rußlands wird überbewertet. Die BRICS-Gruppe funktioniert weiterhin. Sie floriert. Sie hat viel Potential und eine große Zukunft. Die Allianz mit China ist strategisch sehr wichtig, angesichts dem wirtschaftlichen und politischen Wachstum Chinas. Aber eins will ich noch loswerden, auch wenn der Westen einen großen Teil der Schuld trägt, um nicht zu sagen: fundamental schuld ist an der Ukraine-Krise, schuld ist an einer antirussischen Agenda. Rußland ist in dieser Hinsicht zwar unschuldig. Die Ukraine wird für sehr lange Zeit eine offene, klaffende Wunde bleiben. Die Annexion der Krim, die man aus einer breiten Palette von Gründen verstehen kann, wird die Beziehungen Kiews zu Rußland auf Jahrzehnte belasten. Und ich frage mich, ob die Lage nicht hätte viel besser gehandhabt werden können, wenn Rußland viel proaktiver in die Ukraine eingegriffen hätte, wie die USA in der Zeit nach der »orangenen Revolution« 2006/07. Rußland war in dieser Zeit abwesend: keine russischen NGOs, keine prorussische Einflußnahme auf die politische Klasse. Angesichts eines schweren geopolitischen Gegners, wie dem Westen, wird die nun außer Kontrolle geratene Lage Rußland auf Jahrzehnte hin belasten.

Lavelle: John, Sie wissen, daß wir oft einer Meinung sind, aber ich mag den Begriff »Annexion« nicht, denn er unterstellt Gewalt. Dort kam aber keine Gewalt zum Einsatz; es gab eine demokratische Abstimmung — ok, ich will nicht den Rest der Sendung in eine juristische Debatte abgleiten lassen, wobei ich mich zugleich fragen muß, ob nicht der gewaltsame Staatsstreich in Kiew den ukrainischen Staat zerstört hat. Ed, wir sind so gut wie durch. Sie haben die letzten 25 Sekunden.

Lozansky: Was Putin nicht schaffte: die Auslöschung russischer Korruption. Sie erwähnten einen Wandel des Lebensstils. Es gibt noch eine sehr große Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Hätte Putin die Korruption ausgelöscht, hätte all das geändert werden können. Das ist ein großes Thema. Vielleicht ist es sogar wichtiger für ihn als sein Ansehen in Washington. Er muß die Korruption auslöschen. Es ist an der Zeit und es ist viel Arbeit. Aber ich wünsche ihm viel Glück, das zu erreichen.

Lavelle: Reformen brauchen lange. Das ist ein Projekt für Generationen. Unsere Zeit ist um. Vielen Dank meinen Gästen in London, Bristol und Moskau und danke unseren Zuschauern hier auf RT. Bis zum nächsten Mal und denken Sie dran: Crosstalk rules.