Hier ein Jahrhunderthochwasser, da eine überschwemmte Stadt: Was Flutkatastrophen angeht, steht uns das Wasser bis zum Hals - könnte man meinen. Eine neue Statistik aber zeigt ein anderes Bild.

Überschwemmte Straße, im Vordergrund ein Hauseingang und ein Regenrohr
© fotolia / zsv3207 (Ausschnitt)
Gut möglich, dass sich die Gemeinden Herrstein und Fischbach bald in der Naturkatastrophen-Datenbank von Dominik Paprotny und seinen Kollegen wiederfinden. Durch die Straßen der kleinen Orte in Rheinland-Pfalz, etwa in der Mitte zwischen Trier und Bad Kreuznach gelegen, war am vergangenen Sonntag mannshoch der plötzlich angeschwollene Fischbach geströmt. Nach einem Unwetter mit Platzregen hatte er 50 Autos mitgenommen, Fenster eingedrückt, Geschäfte geflutet und Fundamente angenagt, bevor er in sein Bett zurückkehrte. Verletzt wurde niemand, aber der Schaden geht in die Millionen.

In der Datenbank HANZE, die Paprotny an der Universität Delft angelegt hat, könnte das Ereignis so stehen: Region DEB15 (Kreis Birkenfeld), Flashflood (plötzliches Anschwellen eines Gewässers, das innerhalb von 24 Stunden zurückgeht). Die Zahlen über Betroffene und Schaden müssten noch erhoben werden. Die Null bei »Todesfälle« steht schon fest. Es wäre der dritte Eintrag für die Region. Andere Orte wie Wuppertal, wo am Dienstag die Straßen unter Wasser standen, bekämen so ihren ersten Eintrag.

Viele Fluten im Süden Europas

Die erst vor Kurzem vorgestellte HANZE-Datenbank (die Abkürzung steht für Historical Analysis of Natural Hazards in Europe) enthält insgesamt 1564 Überflutungen zwischen 1870 und 2016. Sie weitet die Statistik solcher Ereignisse in Europa um mehrere Jahrzehnte in die Vergangenheit aus. Die Sammlung ist die Basis von Paprotnys Doktorarbeit; eine Auswertung der Daten war nun der renommierten Fachzeitschrift »Nature Communications« eine Veröffentlichung wert.

Für Deutschland hat Paprotny 84 Ereignisse gefunden, von einer Ostseeflut im heutigen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 1882 bis zu den Flussfluten im Juni 2016, als in ganz Deutschland Gewässer über die Ufer traten. Durch die Gemeinden Simbach und Braunsbach rasten damals Blitzfluten; sieben Menschen starben. Die am häufigsten betroffene Gemeinde ist Köln, Kodenummer DEA23 im Regionsregister von Eurostat, das Paprotny für die geografische Zuordnung nutzt. Die Stadt erscheint zehnmal in der Überflutungsdatenbank, zum letzten Mal mit einem »Jahrhunderthochwasser« am Rhein 1995.

Die meisten der verzeichneten Überschwemmungen ereigneten sich jedoch in Italien (556), Spanien (232) und Frankreich (161). Das liegt zum einen daran, dass sich dort in bergigen Regionen in Andalusien, Katalonien, an der Côte d'Azur, auf Korsika und Sardinien und in Norditalien viele Blitzfluten ereignet haben. »Zum anderen«, sagt Paprotny, »haben alle drei Länder gute, über das Internet nutzbare Informationen über solche Überschwemmungen. In anderen Staaten war ich auf Presseartikel, wissenschaftlichen Auswertungen und Regierungsberichte angewiesen.«

Insgesamt 400 Quellen habe er genutzt, sagt der aus Polen stammende Wissenschaftler, und sich für alle Landessprachen ein Set von Suchbegriffen zurechtgelegt, um Ereignisse zu finden. »Ohne Zahlen über Todesfälle, Betroffene, die überschwemmte Fläche und die Höhe des Schadens nutzten Berichte über Überschwemmungen leider nichts.«

Die Daten sind lückenhaft

Das Ziel der Arbeit ist keinesfalls reine Geschichtsschreibung. Das Team um den jungen Mann aus Delft möchte die historischen Trends der Überschwemmungen in Europa aus den Daten ablesen können. Dazu mussten die Forscher ihre Datenbasis noch verbessern. Relativ einfach ist es, die Zahl der Betroffenen in Bezug zu den Bevölkerungstrends der Jahrzehnte seit 1870 zu setzen. Bei den eingetretenen Vermögensschäden diente die Entwicklung des Bruttoninlandprodukts und des angesammelten Wohlstands als Bezugsgröße für diese Korrektur.

Schwieriger war es, unbekannte Daten für bereits bekannte Flutereignisse abzuschätzen und ein Gefühl für die in der Statistik womöglich fehlenden kleinen Ereignisse in früheren Jahrzehnten zu bekommen. Dafür hat das Team das Muster der vorhandenen Daten, besonders der aus den Jahren ab 1990, herangezogen. All das führte in der Auswertung dazu, dass sich zum Beispiel die Summen der Schäden in den Dreißigjahreszeiträumen am Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts gegenüber den nominellen Angaben vervielfachten.

So ergibt sich dieses Bild: Die Zahl der Todesopfer ist über die ganze Zeit von 1870 bis 2016 kontinuierlich um 1,2 Prozent pro Jahr gefallen; besonders ausgeprägt ist dieser Trend seit 1950. Im Zeitraum von 1870 bis 1899 dürften nach der korrigierten Statistik 21 000 Europäer bei Überschwemmungen ums Leben gekommen sein, seit 1990 hingegen waren es weniger als 3000. Auch die wirtschaftlichen Verluste durch die Fluten haben abgenommen, aber hier ist das Bild nicht eindeutig. Den größten und statistisch am zuverlässigsten bestimmten Rückgang gibt es seit 1950 mit etwa zwei Prozent pro Jahr.

Hochwasser in Gera 2013 | Starke Regenfälle Ende Mai 2013 lassen die Weiße Elster anschwellen, in den Folgetagen sind unter anderem Teile von Gera überflutet. Am 3. Juni sind zeitweise 10 000 Menschen ohne Strom.
© Kerrick / Getty Images / iStock (Ausschnitt)Hochwasser in Gera 2013 | Starke Regenfälle Ende Mai 2013 lassen die Weiße Elster anschwellen, in den Folgetagen sind unter anderem Teile von Gera überflutet. Am 3. Juni sind zeitweise 10 000 Menschen ohne Strom.
Gewachsen ist indes der Anteil der betroffenen Menschen an der Gesamtbevölkerung, um 0,7 Prozent pro Jahr seit 1870. Im Durchschnitt seien jedes Jahr nur 3 von 10 000 Menschen einer Überschwemmung ausgesetzt, stellt die Studie fest. Stärker zugenommen hat die Größe der überfluteten Fläche: um 1,6 Prozent pro Jahr seit 1870. Hier warnt Paprotny allerdings vor einer Überinterpretation, denn nur jeder zehnte Eintrag in seiner Datenbank enthält eine Angabe zur den Quadratkilometern unter Wasser.

Immer weniger Tote

Ähnliche schwache Trends, sagt Jan Eichner vom Rückversicherer Munich Re, ließen sich auch in den Daten seines Unternehmens erkennen. Diese reichen für Europa und die USA bis 1970 zurück. Ob zusätzliche 100 Jahre tatsächlich einen Mehrwert bieten, da ist der Experte allerdings etwas skeptisch: »Das ist weit aus dem Fenster gelehnt, und ich weiß nicht, ob die Autoren sich dabei gut festhalten.« Die Behandlung der Daten aus früheren Epochen sei kreativ und innovativ, man müsse aber noch die statistische Validität der vorgenommenen Korrekturen prüfen. In einem Punkt habe er jedoch eine andere Meinung als die Autoren: Die über einen gewissen Zeitraum aggregierten Schadensummen von vielen kleinen, in den Aufzeichnungen meist fehlenden Überschwemmungen könnten zusammen nicht größer sein als die Verluste durch wenige, aber bekannte Großereignisse.

Wie groß der Bedarf an besseren Daten ist, demonstrieren selbst etliche eigentlich wohldokumentierte Überschwemmungen. Bei den drei größten Flutereignissen in Deutschland der jüngeren Vergangenheit zum Beispiel gibt es keine Daten zur betroffenen Fläche. Weder bei den Ereignissen von 2016, als von Bayern bis Hamburg Flutschäden gemeldet wurden, noch bei den Fluten 2013 und 2002 an Elbe und Donau konnte Paprotny eine Angabe finden. »Manchmal hatte ein Bundesland eine Zahl, aber das nächste dann schon wieder nicht.«

Ob es Todesfälle gab und wenn ja wie viele, ist hingegen von fast jedem Ereignis bekannt. Die meisten Opfer forderte im Januar 1953 eine Sturmflut in den Niederlanden. Die »Watersnood«, wie das Ereignis später genannt wurde, kostete 1835 Menschen das Leben und wurde zum Auslöser eines beispiellosen Deichbauprogramms. Im Jahr 1962 starben in Katalonien 805 Menschen bei einer Blitzflut, und schon 1879 hatte ein plötzlich angeschwollenes Gewässer in der Gegend von Alicante 777 Menschen getötet.

Noch kein Zeichen des Klimawandels

Die größte Zahl direkt von den Fluten betroffener Menschen datiert auf den März 1947: Als in England Themse, Severn und andere Flüsse über die Ufer traten, mussten sich 400 000 Anwohner in Sicherheit bringen, hatten Schäden an Haus und Grundstück oder waren vom Trinkwasser abgeschnitten; Todesfälle gab es aber keine. Den zweiten Platz auf dieser Liste nimmt die Oderflut 2002 ein, die 330 000 Menschen traf und 27 von ihnen das Leben kostete. Dieses Ereignis ist zugleich das drittteuerste Hochwasser in der Datenbank. Wenn man die Kosten auf Euro mit der Kaufkraft von 2011 umrechnet, erreichen sie knapp 10 Milliarden Euro. Höhere Kosten gab es nur bei Hochwassern 1966 an Arno und Adige in Italien (hochgerechnet 11,9 Milliarden Euro) und 1983 in Asturien und dem spanischen Baskenland (hochgerechnet 11,5 Milliarden Euro).

Einen Einfluss des Klimawandels auf das Flutgeschehen kann das Team um Dominik Paprotny in der Datenbank nicht erkennen. Darin stimmt es mit anderen Forschungsgruppen etwa bei der Munich Re überein. Allgemein werden aber vermehrte Blitzfluten als Folge der Veränderungen in der Zukunft erwartet. Dann könnte der Mechanismus eintreten, der Ende Mai 2018 Herrstein zum Verhängnis wurde und 2016 Simbach am Inn: Gewitterwolken bleiben über den Orten hängen und schütten sich aus. Und weil erwärmte Luft mehr Feuchtigkeit enthält, dürften die Regenmengen in Zukunft noch zunehmen.

Paprotny würde seine Datenbank gern fortführen, auch um dieser Entwicklung nachzuspüren. Dass er die nötigen Forschungsmittel bekommt, ist allerdings noch nicht gesichert. Beworben hat er sich unter anderem beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, erzählt er. Es liegt in der Region DE404 - für die verzeichnet seine Datenbank bisher kein Ereignis.