Ende Oktober ist es soweit: Erstmals werden mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben. Um die rasant wachsende Weltbevölkerung ernähren zu können, muss die Landwirtschaft effizienter werden, lautet ein oft geäußertes Credo. Viel wäre jedoch schon gewonnen, wenn vorhandene Lebensmittel effizienter genutzt würden, statt sie vergammeln zu lassen.
Lebensmittel im Müll
© picture-alliance/dpaTäglich wandern auch in Deutschland tonnenweise Lebensmittel in den Müll.

Jedes Jahr wandern weltweit rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel in den Müll. Das entspricht etwa einem Drittel der globalen Jahresproduktion, schätzt die Welternährungsorganisation FAO. Gleichzeitig hungern eine Milliarde Menschen. Unser Ernährungssystem versagt an den Bedürfnissen der Armen, kritisiert das Worldwatch Institute in der US-Hauptstadt Washington. Es hat deshalb eine Initiative zur besseren Nutzung von Lebensmitteln gestartet und die Gründe für die große Verschwendung untersucht.

Da ist zum einen eine "verschwenderische Nachlässigkeit gegenüber Nahrungsmitteln", wie Tristram Stuart beklagt, einer der Autoren des diesjährigen Worldwatch-Berichts zum Zustand des Planeten ("State of the World 2011"). Als Beispiele zählt er auf: "Kosmetisch 'mangelhafte' Agrarprodukte wegzuschmeißen, essbare Fische als Beifang auf See zu entsorgen, übervolle Lager in Supermärkten und zu viel Essen für daheim zu kaufen oder zuzubereiten".

In den Industrienationen bestehen demnach 40 Prozent der Nahrungsmittelverluste aus völlig genießbaren Lebensmitteln, die von Händlern oder Verbrauchern aus verschiedenen Gründen in die Tonne geworfen werden - etwa weil das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist oder die Lagerkapazitäten erschöpft sind. Zudem werden tonnenweise Lebensmittel wegen angeblicher Schönheitsfehler oder erschöpfter Quoten nicht vermarktet. So pflügen etwa Farmer in den USA rund 20 Prozent der Melonenernte unter, weil die Früchte "Makel" an der Oberfläche oder in der Form haben.

Die Industriestaaten verschwenden auf diese Weise jedes Jahr rund 220 Millionen Tonnen gut essbarer Lebensmittel - das entspricht in etwa der kompletten Nahrungsmittelproduktion aller afrikanischen Länder südlich der Sahara (230 Millionen Tonnen), unterstreicht das Worldwatch Institute.

Ursachen ganz unterschiedlich

Doch die Ursachen der Verschwendung sind in den Industrie- und Entwicklungsländern ganz unterschiedlich: In armen Ländern geschehen 40 Prozent der Verluste nach der Ernte bereits auf dem Weg zum Verbraucher - etwa durch mangelhafte Lagerung oder Transport, aber auch bei der Verarbeitung und Verpackung. So gehen laut Stuart jährlich allein 150 Millionen Tonnen Getreide in den Entwicklungsländern verloren - das Sechsfache dessen, was nötig wäre, um alle hungernden Menschen in den armen Ländern zu versorgen.

"Der Umfang des Verlusts ist schockierend", fasst die Direktorin des Worldwatch-Projekts "Nourishing the Planet" ("Den Planeten ernähren"), Danielle Nierenberg, zusammen. Die Vereinten Nationen erwarten, dass die Weltbevölkerung bis 2050 von derzeit sieben auf etwa neun Milliarden Menschen anwachsen wird. Viele Experten schätzen, dass die Welt ihre Nahrungsmittelproduktion im nächsten halben Jahrhundert verdoppeln muss, da immer mehr Menschen Fleisch und auch immer bessere Nahrung essen. "Die Menschheit nähert sich den Grenzen des verfügbaren Farmlandes und der für die Landwirtschaft nutzbaren Wasserversorgung - und hat sie mancherorts schon überschritten", schränkt jedoch Worldwatch-Institutsdirektor Robert Engelman ein.

Nierenberg meint daher: "Es wäre sehr sinnvoll, in eine bessere Ausnutzung der bestehende Produktion zu investieren." Ihr Projekt hat dafür billige, effiziente Strategien zusammengetragen. So sollte überschüssiges Essen zu denen gelangen, die es brauchen. Als Beispiel führt Nierenberg die "Tafeln” an, die für den Müll bestimmte, aber völlig essbare Nahrungsmittel einsammeln und an Bedürftige verteilen. Die Organisation City Harvest etwa sammele in New York pro Jahr fast 13.000 Tonnen überschüssiges Essen ein und versorge damit fast 600 Lebensmittelprogramme in der Stadt.

Zudem müsse das Verbraucherbewusstsein für den Wert von Lebensmitteln gestärkt werden. Das lasse sich etwa mit einer vorgeschriebenen Mülltrennung von Kompost- und Recyclingabfällen fördern, glaubt die Worldwatch-Expertin.

Einfache Mittel

Suchen nach Essen im Müll
© picture-alliance/dpaDie Armut ist bereits jetzt in vielen Ländern der Welt so groß (im Bild: Philippinen), dass Menschen im Müll nach Nahrung suchen.

Und in den Entwicklungsländern könnten vergleichsweise einfache technische Mittel den Nahrungsmittelverlust senken. So hätten die Vereinten Nationen etwa in Pakistan rund neun Prozent der Bauern mit Metallcontainern als Ersatz für die herkömmlichen Jutesäcke und Lehmkonstruktionen zum Lagern von Getreide versorgt. Die Bauern hätten dadurch bis zu 70 Prozent weniger Verluste gehabt. Ein anderes Projekt nutze Sonnenenergie zum Trocknen von Mangos in Westafrika. Dort vergammelten bisher rund 100.000 Tonnen dieser Früchte, bevor sie auf den Markt kämen.

Darüber hinaus möchte das Worldwatch Institute die Kleinbauern in Entwicklungsländern besser vernetzen. So helfe etwa die Organisation Technoserve in Uganda kleinen Bananenzüchtern, sich zu Gesellschaften zusammenzuschließen, um ihre Früchte gemeinsam zu vermarkten. Das habe bereits die Kosten für die Farmer gesenkt, sie konkurrenzfähiger gegenüber großen Agrarunternehmen gemacht und zu einem stabileren Markt beigetragen. Rund 20.000 Bauern würden bereits an dem Programm teilnehmen. Sie profitierten auch vom Informationsaustausch.

In diesem Punkt sieht das Institut große Möglichkeiten durch die immer weiter verbreitete Kommunikationstechnik. Weltweit seien bereits rund fünf Milliarden Mobiltelefone im Einsatz, und es mache Sinn, diese über die persönliche Kommunikation hinaus zu nutzen. So seien etwa in Niger Marktpreise für bestimmte Agrarprodukte per Handy abrufbar. Dieses Projekt habe die Schwankungen von Getreidepreisen um 20 Prozent reduziert und helfe damit, faire Preise für Erzeuger und Verbraucher zu sichern.

"Wenn Gruppen von Kleinbauern ihre Produktionsmethoden besser organisieren - ob das nun heißt, die richtigen Dinge zur rechten Zeit zu bestellen, oder ihre Produkte direkt an den Kunden zu verkaufen -, macht sie das widerstandsfähiger gegen Schwankungen der globalen Nahrungsmittelpreise, während sie zugleich ihre Dörfer besser versorgen", betont Worldwatch-Institutsdirektor Engelman.

Effizientere Nutzung auch gut fürs Klima

Eine effizientere Nutzung von Lebensmitteln ist jedoch nicht nur gut für die Welternährung, sondern hilft auch dem Klima, wie Stuart in seinem Buch Für die Tonne betont. So sei allein der globale Viehsektor nach einer FAO-Erhebung von 2006 für rund 18 Prozent sämtlicher menschengemachter Treibhausgasemissionen verantwortlich. "Fleisch und Milchprodukte erzeugen ein unverhältnismäßig hohes Maß an Emissionen, obwohl sie nur einen relativ kleinen Teil zur Gesamtkalorienaufnahme leisten (global weniger als 20 Prozent)", kritisiert Stuart.


Das ist auch gefährlich für die globale Nahrungsmittelproduktion selbst, wie Stuart ausführt: Die Ausweitung von Anbau- und Weideflächen vernichte immer mehr Wald, was in einen Teufelskreis führen könne. So stehe etwa die Amazonasregion heute gefährlich nahe davor auszutrocknen, wodurch der Regenwald absterben und sich in Grasland verwandeln würde. Ein solcher Waldverlust würde den Klimawandel weiter anheizen und damit die landwirtschaftlichen Erträge mindern. Das könne nach Befürchtungen des UN-Umweltprogramms UNEP sogar bis zu einer globalen Missernte führen. Eine Ausweitung der Agrarfläche drohe auf diese Weise das Gegenteil des Beabsichtigten zu bewirken, warnt Stuart.

In der Europäischen Union (EU) könnten die Menschen bis 2030 rund ein Viertel der Treibhausgase aus der Nahrungsmittelproduktion einsparen, wenn sie das unnötige Wegwerfen von Essen vermeiden und sich fleischarm sowie vorzugsweise mit Bio-Lebensmitteln ernähren würden. Zu diesem Schluss kommt das EU-Projekt EUPOPP, das den nachhaltigen Konsum in Europa untersucht hat.

Einsparpotenzial: 110 Millionen Tonnen Treibhausgase

"Heute werden circa 38 Millionen Tonnen Lebensmittel aus den europäischen Einkaufsregalen verbannt und weggeworfen, die zwar schon abgelaufen, aber durchaus noch essbar sind", kritisiert die EUPOPP-Projektleiterin am Darmstädter Öko-Institut, Bettina Brohmann. "Unsere Studie zeigt außerdem, dass mehr als 110 Millionen Tonnen Treibhausgase eingespart werden könnten, wenn wir zusätzlich unsere Ernährungsgewohnheiten in moderatem Maße ändern. Das sind mehr als 16 Prozent der Treibhausgasemissionen des Ernährungssektors der EU."


Das Öko-Institut schlägt unter anderem vor, die Haltbarkeitsdaten zu verlängern, die heute eher zu kurz bemessen seien, bereits in den Schulen über nachhaltigen Konsum aufzuklären und die Mehrwertsteuer auf umwelt- und klimaschädliche Produkte zu erhöhen. Darüber hinaus empfiehlt das Institut einen "Veggie-Day” pro Woche, an dem in öffentlichen Kantinen und Schulen ausschließlich vegetarisches Essen ausgegeben werden soll. Das hätte direkte Klimawirkung und wäre Vorbild für die Bürger. Zusammen mit der generellen Verwendung biologisch erzeugter Zutaten könne allein der "Veggie-Day" EU-weit rund 29 Millionen Tonnen Treibhausgase pro Jahr einsparen.

Im Hinblick auf die Welternährung appelliert Worldwatch-Chef Engelman: "Wir werden bereits mit Lebensmittelpreisanstiegen und den ersten Folgen des menschengemachten Klimawandels auf die Nahrungsmittelproduktion konfrontiert. Wir können es uns nicht leisten, über einfache, billige Mittel zum Reduzieren der Lebensmittelverschwendung hinwegzusehen."

dpa