Chronischer Juckreiz hat einen verheerenden Effekt auf die Betroffenen. Viele klagen über Depressionen, Angsterkrankungen oder Schlafstörungen. Die Medizin weiß immer noch keinen rechten Rat dagegen.

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© Malbert - FotoliaDer kleine Bruder des Schmerzes: Jucken
Der Schmerz peinigt, das Jucken ärgert nur - meinen die meisten Menschen. Das Gespräch mit einem Neurodermitis-Patienten könnte sie schnell eines besseren belehren. Wer dennoch nicht glauben will, was für ein unerträglicher Quälgeist das Jucken sein kann, dem sei ein Blick in die Studie der Hautärztin Seema Kini von der Emory University School of Medicine in Atlanta empfohlen. Fast ein Lebensjahrzehnt, 13 Prozent ihrer Lebenszeit, ist dort zu lesen, würde ein Patient, der unter chronischem Juckreiz leidet, dafür hergeben, endlich Ruhe zu haben. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren in Deutschland wären das acht geopferte Jahre.



Das Forscherteam hatte 311 Patienten befragt, die seit mindestens sechs Wochen entweder an chronischen Schmerzen oder aber an chronischem Pruritus litten, wie das Jucken medizinisch korrekt genannt wird. Ziel war es, den Leidensdruck der Betroffenen zu vergleichen. Das Ergebnis: In der Schmerzgruppe bezeichneten knapp 36 Prozent ihre Symptome als schwer, in der Pruritusgruppe 28 Prozent. Während der durchschnittliche Prurituspatient 13 Prozent seiner Lebenszeit für eine Symptomfreiheit opfern würde, würde der 23 Prozent hergeben. "Chronischer Juckreiz hat einen verheerenden Effekt auf den Betroffenen und kann Gesundheitsprobleme wie Depressionen, Angsterkrankungen oder Schlafstörungen nach sich ziehen", erklärt die Studienleiterin Suephy Chen.

Dennoch gilt der Pruritus unter Medizinern therapeutisch nach wie vor als Problemfall. Was nicht zuletzt daran liegt, dass er sehr viele unterschiedliche Auslöser haben kann, von Hauterkrankungen wie Dermatitis, Urtikaria und Pilzinfektionen bis zu inneren Erkrankungen wie Eisenmangel, Hepatitis, Niereninsuffizienz und Diabetes. Ganz zu schweigen davon, dass auch psychische Probleme wie Schuldgefühle, Ängste und Depressionen den Pruritus begünstigen.

Zudem reagiert Jucken als Symptom ganz unterschiedlich auf Behandlungsmaßnahmen. So erfahren zwar viele Patienten eine Linderung durch heiße Bäder, doch langfristig wird das Leiden dadurch oft schlimmer, weil die Haut austrocknet und damit anfälliger für Juckschübe wird. Kältepackungen bringen demgegenüber bei lokalem Juckreiz in der Regel eine deutliche Linderung, doch bei großflächigem Pruritus sind sie praktisch nicht anwendbar.

Unter den medikamentösen Therapien halten sich ebenfalls positive und negative Wirkungen oft die Waage. Salben mit dem Pfefferwirkstoff Capsaicin betäuben die Nervenfasern in der Haut und lindern dadurch den Juckreiz, doch man muss sie drei bis fünf Mal täglich anwenden, und dann reizt das scharfe Mittel schließlich die Haut. Demgegenüber helfen Cortisonsalben, wenn das ständige Kratzen bereits seine Spuren hinterlassen hat, langfristig aber mündet es in einer Ausdünnung der Haut.

Viele Dermatologen setzen daher mehr Hoffnung in Salben mit dem Wirkstoff Tacrolimus, weil er gezielter in die juckreizauslösenden Reaktionen des Immunsystems eingreift. Laut einer finnischen Studie an jungen Dermatitispatienten sollte Tacrolimus aber am besten regelmäßig zwei Mal pro Woche aufgetragen werden, unabhängig von einem akuten Juckreizschub. Man spricht hier von einer proaktiven Anwendung. "Sie erzielt nicht nur eine bessere Wirksamkeit, sondern verbraucht letzten Endes auch genauso viel Salbe wie eine reaktive Behandlung, die nur bei akuten Reizschüben zum Einsatz kommt", betont Studienleiter und Dermatologe Sakari Reitamo von der Universität Helsinki. Denn wenn das Jucken erst einmal aufgetreten sei, müsse man über eine längere Zeit relativ viel Salbe auftragen, um einen Effekt erzielen zu können.

Das sonst für den Drogenentzug eingesetzte Naltrexon hemmt die Signalübertragung im Nervensystem und kann daher bei Pruritus ebenfalls hilfreich sein. Seine potentiellen Nebenwirkungen reichen jedoch von Erbrechen und Kopfschmerzen bis zu Schlafstörungen und Ängsten.

Es ist daher nur bei schwerem Pruritus angebracht, während für ein Jucken, das durch trocken-gereizte Haut verursacht wird, schon das regelmäßige Einreiben mit Hanf- oder Nachtkerzenöl ausreichen kann, weil sie entzündungshemmende Fettsäuren enthalten und recht schnell einziehen.
Singles juckt es am meisten
In einer norwegischen Umfrage an 41 000 Personen berichteten 7,5 Prozent der Männer und 9,2 Prozent der Frauen von immer wiederkehrendem Juckreiz. Singles und Menschen mit belastenden Lebensereignissen sind häufiger betroffen als Ehepartner und Personen mit vielen Freunden. Umgekehrt zeigte sich in der Studie der Emory University, dass "signifikante soziale Beziehungen" wie eine Heirat symptommindernd wirken. Für die Bedeutung des Faktors Psyche beim Thema Juckreiz spricht auch eine Studie aus Münster: Rund 70 Prozent der Prurituspatienten litten hier zusätzlich an psychosomatischen oder psychiatrischen Erkrankungen.