Handys, Zucker, Putzmittel: Es gibt fast nichts, was nicht durch Tunnel unter der ägyptischen Grenze hindurch in den abgeriegelten Küstenstreifen von Gaza gebracht wird. Die geheimen Gänge werden in Reiseführern genannt, ein Besuch bleibt dennoch riskant.
Bild
© Paolo Pellegrin / NATIONAL GEOGRAPHICDieses zerstörte Tor war einst der Zugang zu einem Strandrestaurant in Gaza. Vor der Seeblockade durch Israel lagen hier noch viele Fischerboote, und es gab gut besuchte Cafés. Heute fehlt das Material zum Wiederaufbau, Abwässer fließen ungeklärt ins Meer.
Unterirdisch geschmuggelt wird in Rafah seit nunmehr 30 Jahren. Es kommt alles durch die Tunnel - von Baumaterial und Lebensmitteln bis zu Medikamenten und Kleidung, von Treibstoff und Computern bis zu Vieh und Autos. Die Hamas schmuggelt Waffen. Wahr ist aber auch: Wer einen Tunnel kontrolliert, kann damit viel Geld verdienen. Um ins Geschäft zu kommen, veräußerten einige Familien ihre komplette Habe.

Zwischenzeitlich arbeiteten etwa 15.000 Menschen in den Tunneln. Zehntausenden verschafften sie Jobs, von Ingenieuren und Lastwagenfahrern bis zu Händlern. Die Tunnel sind so selbstverständlich, dass Rafah sie sogar in offiziellen Broschüren vorstellt.

Zusammen mit dem Fotografen Paolo Pellegrin besichtige ich die Tunnel. Die einstündige Fahrt von Gaza-Stadt nach Süden an die Grenze ist eine Tortur. "Schauen Sie sich diese Zerstörung an", sagt unser Dolmetscher Aymaner kopfschüttelnd.
Bild
© Paul Nicklen / NATIONAL GEOGRAPHICDurch die Tunnel in Gaza wird eine ganze Region versorgt: Samstags wird auf dem Markt in Rafah alles Mögliche verkauft - von aromatisiertem Wasser über Gemüse bis zu Zuckerwatte. Die meisten Waren kommen aus Ägypten, die Erdbeeren vor der Hamas-Propaganda stammen aber aus eigenem Anbau.
Gazas Tunnelbetreiber verbergen ihr Tun kaum. Entlang der Grenzmauer erstreckt sich ein Meer weißer Zeltplanen. Unter jeder beginnt ein Tunnel. Verstohlen schleichen wir uns in das erste Zelt, das wir sehen. Dort treffen wir Mahmoud, einen Mann in den Fünfzigern, der früher auf einer Farm in Israel arbeitete. Er verlor seinen Job, als die Grenze während der zweiten Intifada (2000 bis 2005) geschlossen wurde. Darum warfen er und eine Gruppe von Partnern ihre Ersparnisse zusammen. 2006 begannen sie zu graben, ein Jahr später hatten sie einen Tunnel.

600 Millionen Euro Tunnelgebühren gehen an die Hamas

Durch die Tunnel erhält die Regierung von Gaza sämtliches Material für öffentliche Bauarbeiten. Die Hamas besteuert alles, was durchkommt, und macht Tunnelunternehmen dicht, deren Betreiber nicht bezahlen. Jährlich kassiert die Hamas umgerechnet schätzungsweise knapp 600 Millionen Euro an Tunnelgebühren.

Mahmouds Tunnel ist etwa 400 Meter lang. Heute kommen Kisten mit Kleidung, Handys, Zucker und Putzmitteln an, gestern waren es vier Tonnen Weizen. Mahmoud erhält je nach Ware ein paar hundert oder ein paar tausend Euro pro Lieferung. Wie viele andere hier verdient er genug, um den Tunnel zu unterhalten und seine Familie zu ernähren, aber nicht viel mehr.

Fünf bis zwölf Männer arbeiten in Zwölfstundenschichten rund um die Uhr, sechs Tage die Woche. Sie verdienen etwa 40 Euro pro Schicht, aber manchmal vergehen Wochen oder Monate zwischen den Zahlungen.
Bild
© Paolo Pellegrin / NATIONAL GEOGRAPHICLammfleisch ist ein Luxus, den sich die Menschen in Gaza nur an Feiertagen leisten. Weil viele Farmen verwüstet wurden oder auf Land liegen, das die Israelis abgeriegelt haben, wird das Vieh aus Ägypten eingeschleust.
"Möchten sie da runter?", fragt Mahmoud, und ehe ich mich besinnen kann, habe ich ja gesagt. Als ich wieder oben bin, taucht plötzlich ein Trupp Polizisten auf. "Was habt ihr hier zu suchen?", fragt ihr Anführer.

Der Beamte begründet sein Misstrauen: Am Tag zuvor habe er in der Nähe eine Ladung Kokain und Haschisch abgefangen. Dann befiehlt er meinem Fotografen Paolo Pellegrin und mir zu gehen. Wir brauchten eine Genehmigung von der Zentralregierung in Gaza-Stadt, wenn wir wiederkommen wollten.

In den folgenden Tagen verhandeln wir mühsam mit den Behörden, schließlich dürfen wir zurück in den Tunnelkorridor. Das Gerücht, ein amerikanischer Reporter schnüffle herum, hat sich verbreitet, und viele Tunnelbetreiber meiden uns. Aber nicht alle.

Über eine Öffnung der Grenze zu Ägypten wird gemunkelt

Besonders entgegenkommend ist Abu Jamil, ein weißhaariger Mann. Ihm kommt das Verdienst zu, den ersten Vollzeittunnel eröffnet zu haben. Sein Geschäft ging so gut, dass ein Schacht bald nicht mehr ausreichte. Also ließ Abu Jamil einen gewaltigen Graben ausheben, in dem Waren auf- und abgeladen werden konnten. Dann eröffnete er weitere Tunnel, seine Söhne, Enkel, Neffen und Cousins arbeiteten für ihn.

Ein weiterer Mann kommt ins Zelt und flüstert einem der Tunnelbetreiber etwas zu. Er will keine Sardinen - er will nach Ägypten eingeschleust werden. Einige Bewohner Gazas wechseln durch die Tunnel auf die ägyptische Seite von Rafah, um sich dort ärztlich behandeln zu lassen. Manche benutzen die Tunnel zur Flucht, andere wollen nur eine vergnügliche Nacht auf der anderen Seite verbringen.

Mit großem Einsatz trotzen die Menschen im Gaza-Streifen der hohen Arbeitslosigkeit von mehr als 30 Prozent. Am Strand bauen sie neben zerbombten Cafés Fischfarmen. Auf den Dächern von Häusern legen sie Gemüsegärten an. In Rafah wurde eine neue Anlage zur Abwasseraufbereitung in Betrieb genommen.

Doch die Mehrheit der Leute hier ist auf die Tunnel angewiesen.

Noch hoffen die Menschen in Gaza, dass der Arabischen Frühling auch ihre Lebensumstände verbessern könnte. Man munkelt über eine Öffnung der Grenze zu Ägypten, aber wann und ob überhaupt, ist unklar.

Gekürzte Fassung aus National Geographic Deutschland, Ausgabe Februar 2013