Einem internationalen Forscherteam ist es erstmals gelungen, das Genom einer Neandertalerfrau in sehr hoher Qualität zu entziffern. Die Gensequenz gibt den Forschern damit erstmals detaillierte Einblicke in die Verwandtschaftsverhältnisse und Populationsgeschichte der Neandertaler und anderer bereits ausgestorbener Menschengruppen. "Die Ergebnisse zeigen, dass ein Genfluss zwischen diesen Gruppen durchaus üblich war, wenn auch in kleinem Umfang." Zusätzlich präsentieren die Forscher eine endgültige Liste von DNA-Sequenzänderungen, die alle heute lebenden Menschen von unseren nächsten ausgestorbenen Verwandten unterscheiden.

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© Frank Vinken, mpg.deSvante Pääbo mit Neandertalerschädel.
Leipzig (Deutschland) - Schon 2006 initiierte Svante Pääbo, Direktor des Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ein Projekt, das die Sequenzierung des Neandertaler-Genoms zum Ziel hatte. Im Rahmen dieses Projekts veröffentlichte er im Jahre 2010 eine vorläufige Version des Neandertaler-Genoms, die zeigte, dass die Neandertaler Gene an alle heute außerhalb Afrikas lebenden Menschen weitergegeben hatten. Neandertaler und moderner Mensch - so zeigte schon das damalige Ergebnis - hatten sich also erfolgreich vermischt (...wir berichteten).

Ein weiteres Ergebnis des Projekts war die Entdeckung einer neuen bereits ausgestorbenen Menschengruppe, der Denisova-Menschen, die mit den Neandertalern verwandt waren und Gene an heute in Ozeanien lebende Menschen weitergegeben hatten (...wir berichteten).

Mit der Fertigstellung eines Neandertaler-Genoms in sehr hoher Qualität, hat das Projekt jetzt das einst gesteckte Ziel erreicht, indem jede Position im Genom im Schnitt 50 Mal sequenziert wurde. "Der eindeutige Teil des Genoms, der jetzt rekonstruiert wurde, ist qualitativ gleichwertig oder sogar besser als vorliegende Genome heute lebender Menschen", berichten die Forscher aktuell im Fachjournal Nature.

Das Genmaterial für die DNA-Sequenzierung lieferte ein etwa 50.000 Jahre alter Zehenknochen einer Neandertalerfrau, der im Jahre 2010 von einem russischen Archäologenteam unter der Leitung von Anatoli Derevianko und Michael Shunkov von der Russischen Akademie der Wissenschaften in der Denisova-Höhle im Süden Sibiriens ausgegraben wurde. "Das qualitativ hochwertige Neandertalergenom verfeinert und erweitert unser Wissen über die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Neandertalern und heute lebenden Menschen sowie bereits ausgestorbenen Menschengruppen", so die Forscher in der Pressemitteilung der Max-Planck-Gesellschaft (mpg.de).
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© MPI f. evolutionäre Anthropologie/ B. ViolaAus diesem winzigen Zehenknochen eines Neandertalers aus der Denisova-Höhle stammt die nun entschlüsselte Erbinformation.
Die Wissenschaftler präzisieren, dass ein Anteil von etwa 1,5 bis 2,1 Prozent im Genom von heute außerhalb Afrikas lebenden Menschen vom Neandertaler stammt. Die neuen Daten zeigen darüber hinaus, dass etwa 0,2 Prozent im Genom heute lebender Festland-Asiaten und Amerikanischer Ureinwohner auf den Denisova-Menschen zurückzuführen sind.
Die hochwertigen Genomsequenzen von Neandertalern und Denisova-Menschen ermöglichen es den Forschern jetzt erstmals zu klären, ob es zu Kreuzungen zwischen diesen ausgestorbenen Gruppen gekommen ist.

Das Ergebnis: Neandertaler haben wenigstens 0,5 Prozent ihres Erbguts an die Denisova-Menschen weitergegeben. Darüber hinaus unterscheidet sich das Genom des Denisova-Menschen vom Neandertaler-Genom insofern, dass es zusätzlich etwa 2,7 bis 5,8 Prozent der DNA eines unbekannten Vertreters der Gattung Homo enthält. "Diese alte Population von Homininen existierte bereits zu einer Zeit, bevor sich Neandertaler, Denisova-Menschen und moderne Menschen voneinander getrennt hatten", sagt Kay Prüfer. "Es ist möglich, dass es sich bei diesem unbekannten Homininen um die als Homo erectus bezeichnete Menschenart handelt. Weitere Studien sind nötig, um dies zu bestätigen oder zu widerlegen."

Zudem entdeckten die Wissenschaftler, dass die Eltern der Neandertalerfrau aus dem Altai nah miteinander verwandt gewesen sein müssen. "Wir führten verschiedene Inzuchtszenarien am Computer durch und entdeckten, dass die Eltern dieser Neandertalerfrau entweder Halbgeschwister mütterlicherseits, Großcousin und Großcousine, Onkel und Nichte, Tante und Neffe, Großvater und Enkelin oder Großmutter und Enkelsohn gewesen sein müssen", sagt Montgomery Slatkin, ein Poulationsgenetiker der US-amerikanischen University of California at Berkeley, der einen Teil der Genomanalysen leitete. Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Populationsgrößen der Neandertaler und Denisova-Menschen klein waren und Inzucht in Neandertalergruppen möglicherweise üblicher war als in modernen menschlichen Populationen.

Mithilfe des hochwertigen Neandertalergenoms hat das Forscherteam aus Leipzig jetzt auch einen endgültigen Katalog der Änderungen im Genom zusammengestellt, in denen sich heute lebende Menschen von Neandertalern, Denisova-Menschen und den Menschenaffen unterscheiden. "Diese Liste von DNA-Sequenzänderungen ist vergleichsweise kurz", sagt Svante Pääbo. "Es handelt sich dabei um einen Katalog genetischer Änderungen, die alle modernen Menschen von allen anderen lebenden und bereits ausgestorbenen Organismen unterscheiden. Ich glaube, dass unter allen Änderungen in diesem Katalog auch diejenigen versteckt sind, die für die enorme Expansion menschlicher Populationen sowie die Entwicklung menschlicher Kultur und Technologie in den letzten 100.000 Jahren verantwortlich sind."

Quelle: eva.mpg.de