BAD BELZIG - „Agnes besuchte ihre Oma sehr gern“, erinnert sich Yuriy Konrad-Zhukov, der seine Tochter in den Ferien im März 1986 zu ihrer Großmutter nach Komarin brachte. In dieser Kleinstadt an der ukrainisch-weißrussischen Grenze nahe Tschernobyl war Konrad-Zhukov aufgewachsen. Der gelernte Schlosser fuhr zurück zur Arbeit nach Russland. Dort rief ihn seine Mutter an einem schönen Frühlingstag aufgeregt an: „Yuriy, wir haben einen Notfall! Hol bitte deine Tochter ab. Wir müssen für ein paar Wochen verreisen.“

Erst später erfuhr die Familie Konrad-Zhukov, dass dieser Notfall den größten anzunehmenden Unfall (GAU) bedeutete; das „Verreisen für ein paar Wochen“ war eine Evakuierung aus der Heimat ohne Wiederkehr.

Agnes Konrad (27) und Yuriy Konrad-Zhukov (55) gehören zu den unmittelbaren Opfern der Tragödie von Tschernobyl. Die junge Frau aus Brandenburg an der Havel und ihr Vater aus Bad Belzig erlebten die größte nukleare Katastrophe der Menschheit am eigenen Leibe. Sie sind heute sehr schwer krank.

Doch in den Tagen nach der Explosion im Block 4 des Reaktors am 26. April 1986 wussten die Menschen nicht, was geschehen war, sagt Yuriy: „Die Kinder sind barfuß herumgelaufen. Wir haben draußen im Freien gegessen und getrunken. Alles war verstrahlt und wir hatten keine Ahnung.“

1987 schickte die Regierung der Sowjetunion den inzwischen zum Fachingenieur ausgebildeten Yuriy in das Gebiet um Tschernobyl. „Die Todeszone war mein Arbeitsplatz“, sagt Konrad-Zhukov und erzählt, wie er und seine Kollegen „den radioaktiven Dreck aufgeräumt“ und „den gewaltigen Reaktor aufgebaut“ haben. Die beschädigten Teile des Kernkraftwerks wurden dabei gesammelt, repariert oder liquidiert. „Nach drei Monaten gewöhnst du dich an das Piepen“, sagt der Fachingenieur. Das Piepen bedeutet, dass die Umgebung kontaminiert ist.

Bei einer ärztlichen Untersuchung im Jahr 1991 erfuhr Konrad-Zhukov, dass er verstrahlt ist: „Die Ärzte haben mir klar gemacht, dass ich nun für immer ein Invalide bin.“ Dies hat den Mann aber nicht davon abgehalten, gegen den Rat der Ärzte freiwillig weitere zehn Jahre - von 1993 bis 2000 als leitender Ingenieur - in dem berühmt-berüchtigten Atomkraftwerk (AKW) zu arbeiten.

1988 errichteten die Tschernobyl-Arbeiter für sich und ihre Familien die ukrainische Stadt Slawutitsch. Dort, lediglich 45 Kilometer von dem Unfallort entfernt, hat die Familie Konrad-Zhukov die folgenden Jahre gelebt.

Agnes Konrad kann sich an ihre Kindheit nur vage erinnern. Die atomare Katastrophe war jedoch auch im Leben der ukrainischen Kinder allgegenwärtig. So erzählt Agnes: „Wir hatten in der Schule einen Wettbewerb: Wer schreibt den besten Aufsatz über Tschernobyl?“

Die Folgen der nuklearen Havarie seien kaum in Worte zu fassen, meint Yuriy Konrad-Zhukov. „Ich habe Menschen gesehen, die wegen der Verstrahlung ihre Haut und Haare fetzenweise verloren hatten“, sagt der ehemalige AKW-Ingenieur. All seine Arbeitskollegen seien elendig krepiert, bevor sie ihr 50. Lebensjahr erreicht hatten. Die meisten starben an Krebs.

Konrad-Zhukov selbst ist herzkrank und hat Diabetes. Seine ärztlichen Unterlagen weisen ihn als schwerbehindert aus und sie belegen: „Die Erkrankungen sind hervorgerufen durch die Katastrophe im AKW Tschernobyl.“

Weil die medizinische Versorgung nicht ausreichte, sah die Familie Konrad-Zhukov keinen anderen Ausweg, als im Jahr 2003 die Ukraine zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Yuriy berichtet: „Meine Frau hat deutsche Vorfahren. Das war unsere einzige Chance.“ Heute wohnen er und seine Frau in Bad Belzig.

Ihre Tochter Agnes kam 2007 nach Brandenburg an der Havel und wohnt seitdem in der gemeindenahen Psychiatrie, der Wohnstätte für psychisch kranke Menschen. „Die radioaktive Strahlung griff bei ihr das Nervensystem an und verschlimmerte ihre psychische Erkrankung“, diagnostiziert der Vater.

Mittlerweile verzweifelt Yuriy Konrad-Zhukov an dem Leichtsinn, mit dem die Menschen an die atomare Gefahr herangehen. „Die Radioaktivität hinterlässt immer ihre Spuren“, sagt der einstige Tschernobyl-Ingenieur, dem klar geworden ist, dass die Verstrahlung ihm selbst und seiner Familie „die Gesundheit gestohlen“ hat.

Die Vorgänge im japanischen Atomkraftwerk Fukushima mitzuverfolgen, sei für ihn schmerzvoll, beklagt Konrad-Zhukov: „Es tut sehr weh zu sehen, wie sich der Schrecken, den wir vor 25 Jahren erlebt haben, nun wiederholt.“