Der deutsche Aussenminister Frank Walter Steinmeier hielt am Donnerstag folgende Rede in Wolgograd (Stalingrad) anlässich des Konzerts "Musik für eine Welt gegen Krieg". Er und sein russischer Amtskolle Sergej Lawrow erinnerten gemeinsam an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, besuchten zusammen die Schlachtfelder, wo mehr 700'000 Menschen gestorben sind, und legten Kränze auf einem deutsch-russischen Soldatenfriedhof nieder.
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Kommentar: Bevor Sie die Rede lesen, sollten Sie sich über folgende Tatsache bewusst sein:
"In der Politik geschieht nichts aus Zufall. Wenn etwas geschieht, können Sie mit Sicherheit davon ausgehen, dass es so geplant ist."

Franklin D. Roosevelt

Herr Außenminister, lieber Sergei Lawrow,
Herr Gouverneur Botscharow,
Herr Oberbürgermeister Kosolapow,
Vor allem: Verehrte anwesende Veteranen!
Liebe Bürgerinnen und Bürger von Wolgograd!

Dieser Platz war ein Ort des Krieges!
Heute ist er ein Ort der Versöhnung!
Auf dieser Bühne treffen Russen und Deutsche zusammen und machen gemeinsam Musik. Russische Musik und deutsche Musik.
Ihre Musik ist ein klingendes Symbol der Versöhnung!

Wolgograd ist die Stadt der Helden!
Wer waren diese Helden?
Sie waren Menschen! Menschen, die unsägliches Leid erfahren haben.
Mütter und Väter.
Söhne und Töchter.
Zivilisten und Soldaten.
So stehen sie vor uns in der Erinnerung.

Diese Menschen haben hier in Stalingrad die erste entscheidende Wende des Krieges vollbracht.
Diese Menschen haben hier in Stalingrad die Befreiung Europas vom Nazi-Joch begonnen.

Dafür haben sie unermessliche Opfer gebracht.
Vor diesen Opfern verneige ich mich als Deutscher in Trauer.
Und ich bitte um Vergebung für das maßlose Leid, das Deutsche in deutschem Namen anderen zugefügt haben -
hier in dieser Stadt und in ganz Russland, in den heute zur Ukraine und Weißrussland gehörenden Teilen der damaligen Sowjetunion. Und in ganz Europa.

Überall auf der Welt erinnern Menschen in diesen Tagen an das Kriegsende vor 70 Jahren.
Jedes Volk gedenkt auf seine Weise - der eigenen Opfer, der eigenen Schmerzen, der eigenen Taten.

Und dennoch:
Wir sind nicht allein in unserer Erinnerung!
Deutsche und Russen können und sollen gemeinsam gedenken!
Und für dieses gemeinsame Gedenken sind wir hier in Wolgograd genau am richtigen Ort!

Denn hier, auf den Schlachtfeldern von Stalingrad, wurde der Vormarsch der Truppen Nazi-Deutschlands zum Halten gebracht, hier war der Wendepunkt des Krieges und hier ist zugleich sein allergrößtes Grauen auf ewig in den Erdboden gebrannt!

Aus diesem Erdboden steigt die Mahnung, die alle verbindet, die des Krieges gedenken - die besonders uns Deutsche und Russen verbindet: Nie wieder!
Nie wieder sollen Menschen anderen Menschen solch unmenschliches Leid zufügen!

Liebe Bürger von Wolgograd,
Ich danke Ihnen, dass Sie uns Deutsche heute hier empfangen. Denn Ihre Familien haben das unvorstellbare Leid des Krieges ertragen müssen.
Bis heute durchziehen schmerzvolle Erinnerungen unsere Familien; Ihre Familien, Millionen Familien in ganz Russland bis hinauf zu Ihrem Präsidenten, dessen Vater fünf seiner sechs Brüder verloren hat, wie wir heute in Deutschland lesen konnten. Und ähnlich schmerzvolle Erinnerungen durchziehen Millionen von Familien auch in Deutschland - auch meine eigene.

Und gerade deshalb weiß ich:
Unser gemeinsames Erinnern ist eine Chance!
- Eine Chance für uns alle: für Deutsche und Russen und alle Völker Europas, um gemeinsam zu sagen ‚Nie wieder‘!
- Eine Chance, damit Sie, die Bürger, zu ihren Regierungen sagen können: Ihr tragt jetzt die Verantwortung für die Menschen unserer Völker; tragt sie so, dass Friede herrscht in Europa!
- Eine Chance, damit wir nicht alte Feindbilder unter den Völkern schüren, sondern Verständigung üben und unsere Gegensätze und Konflikte, wo sie bestehen, friedlich überwinden.

Wir Deutsche schulden den Opfern des Krieges nicht nur unser ehrendes Gedenken - sondern auch, dass wir Lehren ziehen aus ihrem Leid.
Und deshalb sage ich als Deutscher:
Die Menschen von Stalingrad sind nicht nur Helden, weil sie vor siebzig Jahren mit ihrem Blut die Wende im Krieg erzwungen haben!
Sie sind auch Helden, weil sie uns bis heute zum Frieden ermahnen!
Hören wir gemeinsam auf ihre Mahnung! Und: Hören wir jetzt gemeinsam auf die Musik des Friedens!

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In Russland wird am Wochenende der 70. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutachland am 8./9. Mai 1945 mit einer grossen Parade gefeiert. Am Sonntag will Merkel in Moskau mit Präsident Wladimir Putin am Grab des Unbekannten Soldaten einen Kranz niederlegen. Bei der grossen Militärparade am Samstag ist wegen des Ukrainekonflikts allerdings kein Mitglied der Bundesregierung dabei, sondern Deutschland wird nur durch seinen Botschafter vertreten.

Nach dem Treffen mit Steinemeier sagte Sergej Lawrow, Russland empfängt Signale von der NATO über eine Wiederaufnahme der Kooperation. "Wenn wir so einen Vorschlag erhalten, werden wir konstruktiv darauf antworten", sagte der russische Aussenminister. Es war nicht Russland, dass die Beziehungen in Bezug auf militärische Koordination gekappt hat. "Es war die NATO", betonte Lawrow.

Präsident Putin hat für ein russisches Magazin über die Erfahrungen seiner Familie im Zweiten Weltkrieg gesprochen. Putins Vater hat bleibende Kriegsschäden davongetragen und fünf seiner sechs Brüder starben im Krieg. "Mein Vater hatte sechs Brüder, fünf von ihnen starben“, erzählte Putin in dem Magazinartikel. "Es war eine Katastrophe für meine Familie.“ Auch seine Mutter habe den Grossteil ihrer Verwandten verloren.

Beeindruckt habe Putin vor allem das Verhältnis seiner Familie zu den Deutschen, den einstigen Kriegsgegnern, empfunden. "Trotz all der Trauer, des Leids und der Tragik hassten sie den Feind nicht", sagte Putin. "Für mich war das schwer zu verstehen. Ehrlich gesagt, verstehe ich es immer noch nicht." Vor allem seine Mutter sei eine mitfühlende Frau gewesen, die immer sagte: "Wie kann man diese Soldaten hassen? Es sind einfache Leute, die genauso in diesem Krieg starben."