Fast drei Jahr­zehnte nach dem Ende der argen­ti­ni­schen Mili­tär­dik­tatur beginnt all­mäh­lich die Auf­ar­bei­tung der Ver­bre­chen, die bei den Men­schen­rechts­pro­zessen der letzten Jahre weit­ge­hend ins Hin­ter­treffen geraten sind: die sexu­elle Gewalt gegen poli­ti­sche Häft­linge. »Es ist nicht so, dass über solche Straf­taten nicht geredet wurde. Sie wurden ein­fach nicht gehört«, sagte die Sozio­login Lorena Balar­dini vom Zen­trum für recht­liche und soziale Stu­dien (CELS), einer bekannten argen­ti­ni­schen Menschenrechtsorganisation.

Balar­dini ist Ko-​Autorin der Studie ‘Geschlechts­be­zo­gene Gewalt und sexu­elle Überg­riffe in den geheimen Haft­zen­tren’, an der auch die Anwältin Ana Oberlin und die Psych­ia­terin Laura Sob­redo mit­ge­wirkt haben, um die Ver­bre­chen ans Licht und die Täter vor Gericht zu bringen.

Die drei Exper­tinnen ver­an­stalten Semi­nare mit pro­mi­nenten Refe­renten, um Juristen des süd­ame­ri­ka­ni­schen Landes für das Thema zu sen­si­bi­li­sieren. So konnten der ehe­ma­lige spa­ni­sche Richter Bal­tasar Garzón, der den chi­le­ni­schen Ex-​Diktator Augusto Pino­chet (1973−1990) in London fest­setzen ließ, und Mit­glieder inter­na­tio­naler Straf­ge­richte als Redner gewonnen werden.

Eine ein­zige Verurteilung

Doch bisher sind die Erfolge, die sexua­li­sierte Gewalt in Argen­ti­nien in den blei­ernen Jahren 1976 bis 1983 straf­recht­lich zu ver­folgen, aus­ge­spro­chen mager. Obwohl die Vor­aus­set­zungen gegeben sind, um die Ver­ant­wort­li­chen zu ver­klagen, wurde bisher nur einer der Täter für das Delikt ver­ur­teilt: der Unter­of­fi­zier und Fol­terer Gre­gorio Molina im Juni 2010.

Wie Bar­dini berichtet, sind Richter und Staats­an­wälte in der Regel abge­neigt, die Fälle sexua­li­sierter Gewalt in einem sepa­raten Ver­fahren zu ver­han­deln. Doch die Ver­bre­chen als eine von vielen Fol­ter­me­thoden ein­zu­stufen, mache sie unsichtbar. »Wird ein Ver­bre­chen, das in unserem Straf­recht dif­fe­ren­ziert abge­han­delt wird, einem anderen Straf­tat­be­stand unter­ge­ordnet, büßt es an Bedeu­tung ein«, warnt Balar­dini und fügt hinzu. »Wir jedoch wollen zeigen, dass die sys­te­ma­ti­sche Unter­drü­ckung wäh­rend der Dik­tatur auch die Praxis der sexua­li­sierten Gewalt mit ein­schloss.«

Ein Laie könnte annehmen, dass sich nach so vielen Jahren das Ver­gehen der sexua­li­sierten Gewalt nur schwer­lich beweisen lässt. Doch bei Men­schen­rechts­ver­let­zungen, die in geheimen Fol­ter­zen­tren von den Schergen ille­galer Regie­rungen begangen werden, kommt es auf die Zeugen an: auf die Über­le­benden, falls es sie gibt, und auf die­je­nigen, die die Opfer als Letzte in staat­li­chen Haft­zen­tren gesehen haben.

Mehr Frauen aussagebereit

Balar­dini zufolge sind inzwi­schen mehr Frauen bereit, über sexua­li­sierte Gewalt unter der Mili­tär­junta zu spre­chen. In einigen Fällen seien die Beweis­mittel für die Auf­nahme eines Ver­fah­rens aus­rei­chend, sagt sie. In den 1980er Jahren hätten weder die Gesell­schaft noch die Justiz von Ver­ge­wal­ti­gungs­fällen in geheimen Haft - und Fol­ter­la­gern etwas wissen wollen.

Die argen­ti­ni­sche Dik­tatur hin­ter­ließ in den sieben Jahren ihres Staats­ter­ro­rismus Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen zufolge 30.000 Ver­schwun­dene. Die haupt­ver­ant­wort­li­chen Junta-​Mitglieder wurden 1985 unter der Regie­rung von Raúl Alfonsín (1983−1989) ver­ur­teilt. Später jedoch lösten Gerichts­ver­fahren gegen tau­sende, weniger ein­fluss­reiche Mili­tärs inner­halb der Armee Unruhen aus. Der Druck der Streit­kräfte auf die noch fra­gile Demo­kratie führte 1986 und 1987 zur Ver­ab­schie­dung zweier Amnestiegesetze.

Die bereits ver­ur­teilten hoch­ran­gigen Mili­tärs wurden vom Alfonsin-​Nachfolger Carlos Menem 1989 und 1990 begna­digt.

Mit der Straf­frei­heit war es erst 2005 vorbei, als der inzwi­schen ver­stor­bene Néstor Kirchner die argen­ti­ni­sche Prä­si­dent­schaft antrat. Die beiden Gesetze und die Begna­di­gungen wurden vom Par­la­ment rück­gängig gemacht und vom Oberstern Gerichtshof als ver­fas­sungs­widrig erklärt. Die Ver­fahren wurden wieder auf­ge­rollt. Der­zeit werden lan­des­weit mehr als 360 Fälle verhandelt.

In dieser neuen Etappe der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung erhalten die sexu­ellen Ver­bre­chen an weib­li­chen Gefan­genen Balar­dini zufolge eine Tran­szen­denz, die sie in den 1980er Jahren nicht besaßen. Den­noch kommt es bisher noch sehr selten vor, dass Richter auf eine beson­dere Unter­su­chung dieser Delikte drängen. »Im Ver­fahren gegen den Ersten Hee­res­korps (ein geheimes Haft­zen­trum) war die Zahl der Frauen, die über sexu­ellen Miss­brauch berich­teten, sehr hoch«, so Balar­dini. Dennoch seien die Ver­bre­chen selbst als Form der Folter betrachtet worden und somit weit­ge­hend unsichtbar geblieben.

Ver­ge­wal­ti­gungen relativiert

In dem Bericht von Balar­dini, Oberlin und Sob­redo kommen Frauen zu Wort, die in einigen Fällen mit ihren Män­nern fest­ge­nommen wurden, die sie aber nie wie­der­sehen sollten. In anderen Fällen wurden sie von ihren Kin­dern getrennt, die sie in den Haft­zen­tren gebaren. Diese fürch­ter­li­chen Tren­nungs­ver­luste ver­an­lassten die Frauen, alle anderen erlit­tenen Ver­bre­chen als zweit­rangig abzu­spei­chern. »Ange­sichts des blanken Hor­rors, der sich in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern abspielte, schien eine Ver­ge­wal­ti­gung eher neben­säch­lich«, berich­tete eine Überlebende.

Auch kam es vor, dass Frauen sich für einen kleinen Aus­flug aus der Haft­an­stalt ‘hübsch’ machen mussten, um sich dann in einem Apart­ment sexuell miss­brau­chen zu lassen. Wer sich wei­gerte, wurde mit der ‘Über­stel­lung’ (Tod) bestraft, berich­tete eine ehe­ma­lige Gefan­gene. Nach der Dik­tatur ver­schwiegen viele Über­le­benden  -  egal ob Männer oder Frauen  -  die erlebten sexu­ellen Überg­riffe, weil sie glaubten, dass die Suche nach den Ver­schwun­denen wich­tiger sei oder weil sie ihre Fami­lien nicht mit ihren trau­ma­ti­schen Erfah­rungen belasten wollten.

Doch inzwi­schen sind einige der Opfer bereit, die an ihnen began­genen Sexu­al­ver­bre­chen öffent­lich zu machen. Dazu tragen ver­schie­dene Fak­toren bei. Von fun­da­men­taler Bedeu­tung sind nach Ansicht Balar­dinis in diesem Zusam­men­hang inter­na­tio­nale Straf­pro­zesse wie etwa im Zusam­men­hang mit dem Völ­ker­mord in Ruanda, die sexua­li­sierte Gewalt als Men­schen­rechts­ver­let­zung anerkannten.