US-Einfluss Südamerika,Kerry mit chilenischer Präsidentin
© ReutersUS-Außenminister John Kerry "weist" der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet den Weg
Ebenso wie ihre brasilianische Amtskollegin, ist auch die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet zunehmenden Medienattacken aus dem neoliberalen Lager ausgesetzt, die zudem beinahe 1:1 dem in Brasilien angewandten Strickmustern folgen. Steht dem Land ein erneuter Putsch unter US-amerikanischer Ägide ins Haus? RT Deutsch-Korrespondent Frederico Füllgraf berichtet aus Santiago de Chile und rät, die Entwicklungen im Auge zu behalten.

“Also, sagte sie zur mir: 'Hör zu, unter einer Milliarde darf meine Schwiegermutter nicht abserviert werden'. Ich hakte nach: Wer, bitte? 'Wer denn sonst, du Trottel? - meine Schwiegermutter, Michelle Bachelet', antwortete sie”.

Juan Díaz, berühmt-berüchtigter chilenischer “Operador” - eine Art Dealer zwischen politischen Parteien und privaten Geldspendern - sprach auf seinem Handy über Natalia Compagnon, Schwiegertochter der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet, und eine angeblich mit ihr geführte Verhandlung. Der Geheimdienst OS-9 der Bereitschaftspolizei Carabineros hörte mit.

Der Hintergrund: Anfang 2015 stellte Compagnon ihre Schwiegermutter in ein schiefes Licht, als bekannt wurde, dass sie von Banco de Chile einen 1,0 Millionen US-Dollar-Kredit ohne jedwede Garantien zugeschanzt bekommen hatte. Die Kreditzusage erfolgte, nachdem ihr im Ostberliner Exil geborene Ehemann Sebastián Dávalos dafür beim Bankier und reichstem Mann Chiles, Andronico Luksic, persönlich intervenierte. Der Fall schlug Wellen der Empörung, in seiner Eigenschaft als Sohn der Staatspräsidentin hatte Dávalos einen eklatanten Interessenkonflikt nicht gescheut.

Der transkribierte Mitschnitt von Diáz' Gesprächen umfasste 140 DINA-4-Seiten und geriet in die Hände der konservativen Wochenzeitschrift Qué Pasa, im Besitz des Medienkonzerns Copesa, der 42 Prozent des chilenischen Medienmarktes unter Kontrolle hat.

Die Transkription nannte eine beachtliche Schar von Politikern und Geschäftsleuten, die jedoch im Abdruck von Qué Pasa verschwiegen wurden. Mit einer Ausnahme: die Staatspräsidentin, der eine Beteiligung von umgerechnet 1,3 Millionen Euro in einer schäbigen Schmiergeldaffäre unterstellt wurde.

"Schluss mit diesen Falschmeldungen und Lügengeschichten!", reagierte die entrüstete Bachelet wenige Stunden später, und erstattete Anzeige wegen Behauptung falscher Tatsachen und Diffamierung. Ihr Prozess wird in großen Teilen der Öffentlichkeit fälschlicherweise als "Behinderung der Pressefreiheit" bezeichnet. Schon seit Anfang 2015 ist die chilenische Staatspräsidentin Zielscheibe medialer Attacken, wie auch ihre brasilianische Amtskollegin Dilma Rousseff.

Nach erfolgreicher erster Amtsperiode verabschiedete sich Bachelet 2010 mit der erstaunlichen Popularitätsrate von 84 Prozent. Vier Jahre später kehrte sie mit eisernen Reformversprechen und 62 Prozent der Wählerstimmen in den La Moneda-Palast zurück. Doch das Wahlergebnis trügte: Mit der höchsten Wahlenthaltungsrate der Landesgeschichte hatten 60 Prozent der Chilenen der Präsidentschaftswahl von 2013 den Rücken gekehrt.

Beobachter verschiedener Couleur waren sich bald einig: Chiles Wähler seien des herrschenden Parteiensystems überdrüssig, die junge Demokratie erlebe ihre dramatischste Repräsentativitäts-Krise seit Ende der Pinochet-Diktatur.

Kritiker der 1990 gegründeten "Concertación" und 2013 in "Nueva Mayoría" umgetauften Parteienkoalition von Sozialisten, Sozial- und Christdemokraten werfen dem Bündnis vor, dass vom Pinochetismus geerbte, hemmungslose neoliberale Wirtschaftssystem beibehalten zu haben. Der Umstand, dass die reichen 10 Prozent 27-mal mehr Einkommen auf sich konzentrieren als die ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung, habe die Erwartungen der Mehrheit unter den 16 Millionen Chilenen bitter enttäuscht.

Rezessiver Weltmarkt und inländischer Investitionsboykott

Michelle Bachelet waren diese Erwartungen bekannt, weshalb sie zu Beginn ihrer zweiten Amtsperiode vier vorrangige Reformen versprach: ein kostenloses, öffentliches Bildungsystem; eine sozial gerechte Steuerreform; die Demokratisierung des Arbeits- und Streikrechts und die Schaffung eines öffentlichen Rentensystems. Zwei Jahre danach ist die Luft raus aus dem Elan der Reformen.

Abgesehen von Bachelets Versäumnissen, sollte man ihr allerdings zu Gute halten, dass sie auch zum zweiten Mal die drastischen Auswirkungen außengesteuerter, weltweiter Rezession auszubaden hat.

Während ihrer ersten Amtsperiode wurde Chile zwischen 2008 und 2009 vom US-amerikanischen, bald vom europäischen Bankencrash getroffen, der relevante Investoren vom chilenischen Markt fernhielt.

Unter ihrem konservativen Nachfolger, Sebastián Piñera (2010-2014), schrumpfte 2013 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,5 Prozent auf 4,1 Prozent, stürzte 2014 auf dramatische 1,8 Prozent ab und hat sich seitdem nicht mehr erholt. Die IWF-Prognose für 2016 wurde inzwischen von der Zentralbank von 2,25 Prozent auf 1,25 Prozent fast halbiert. Hauptgrund der dramatischen "desaceleración económica” (Wirtschaftliche Abbremsung) ist der weltweite Preisverfall des Kupfers, Chiles wichtigster Deviseneinbringer. Mit der sinkenden Nachfrage in China, Chiles Hauptexportmarkt, halbierte sich der Kupferpreis seit 2012 von 4,5 US-Dollar auf gegenwärtige 2,4 US-Dollar pro Pfund.

Da das Metall 60 Prozent der chilenischen Exporte ausmacht, hätten sich Staat und Privatwirtschaft längst einen Umbau der Wirtschaft einfallen lassen müssen. Doch Chiles Unternehmer denken nicht daran, allen voran das Dutzend Milliardäre im Forbes-Ranking, darunter Familienclans wie das der Luksics, mit einem anstößigen Vermögen von 12,0 Milliarden Euro. Seit Inkrafttreten von Bachelets Steuerreform, mit der 20-prozentigen Erhöhung der Umsatzsteuer, ziehen es Chiles Milliardäre vor, nicht im Inland, sondern im Ausland, z.B. in Kolumbien zu investieren.

Die "anämische Regierung"

Doch auch die Staatschefin scheint von akuter Trägheit befallen. Zwar fehlen ihr die Kupfererlöse, doch dürfte sie sich an erhöhten Steuereinnahmen erfreuen.

Die Bildungsreform wollte Bachelet mit umgerechnet 8,0 Milliarden Euro Sondereinahmen aus der Steuerreform finanzieren, doch sie machte einen Rückzieher: der längst versprochene, kostenlose Hochschulbesuch wurde noch einmal auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Die Protest-Demonstrationen reißen nicht ab: 47 Prozent der Studenten sind mit Studiengeld-Krediten aussichtslos verschuldet. Michelle Bachelt fehlt es an politischer Standfestigkeit.

In einem Leitartikel von Ende Mai ("La anemía política de Michelle Bachelet", 26.5.2016) bescheinigte El Mostrador, Chiles älteste Online-Zeitung, der Regierung fehlendes politisches Rückgrat.

Frontal an die Adresse Bachelets gerichtet, warnte El Mostrador: "Die zentrale Eigenschaft des politischen Systems in Chile ist der Ruf nach einer aktiven Exekutivmacht. Es ist die eindeutige Führung des Präsidenten, der sich die übrigen Institutionen unterordnen, von ihr überzeugen lassen und Impulse erhalten. Wenn Verfügungsgewalt und Kontrollinstanzen gefragt sind, kennen die Institutionen keine Neutralität. Wenn die Exekutive, aus welchen Gründen auch immer, zaudert, unentschlossen reagiert, dann gibt es praktisch keine Regierung, keine Richtung, sondern nur noch Administration".

Strickmuster nach brasilianischem Vorbild

Bereits im April 2015 war Michelle Bachelet Zielscheibe einer Medienintrige. Damals unterstellte ihr Tomás Mosciatti, Eigentümer der Mediengruppe Radio Biobío, Rücktrittsabsichten. Mit der Überschrift "El comienzo de la despedida de Bachelet" (Der Anfang vom Abschied Bachelets - 21.5.2016), sägte nun Qué Pasa zum zweiten Mal am Stuhl der Staatspräsidentin.

Auf frappante Weise erinnert der Qué Pasa-Leak an den Fall Veja vom 23. Oktober 2014, in Brasilien. Unter Berufung auf den Kronzeugen Alberto Youssef und der Schlagzeile “Sie wussten alles”, hatte das brasilianische Wochenmagazin Dilma Rousseff und ihrem Amtsvorgänger Luiz Inácio Lula da Silvas unterstellt, Mitwissende der Korruption innerhalb von Petrobras- und mit illegalen Parteispenden gewählt worden zu sein.

Mit dem Ziel, den zweiten Wahlgang vom 26.10.2014 gegen die Wiederwahl Rousseffs zu beeinflussen, hatte das immer am Sonntag erscheinende Magazin seine Edition um drei Tage antizipiert - ein bodenloser Anschlag auf den Rechtsstaat und ein klarer Fall für den Obersten Gerichtshof. Yousseffs Anwalt, Antonio Figueiredo Basto, bezeichnete die Behauptungen als grobe Fälschung, doch der Fall ließ die Magistraten kalt.

Die Straflosigkeit des rechtsradikalen Wochenmagazins Veja ermutigte die andernorts bereits beschriebene Hetzkampagne gegen Rousseff, die schließlich am 11. Mai 2016 in Ihrer Amtsenthebung gipfelte.

Doch der Fall Qué Pasa erhellt eine zusätzliche Analogie zum brasilianischen Präzedenzfall: Was Staatspräsidenten verwundbar macht, ist ihre Reformangst und zaudernde Staatsführung. Notorische Angriffs-Signale sind gezielt eingesetzte, fragwürdige Meinungsumfragen zur Dekonstruktion ihrer Popularität, gefolgt von systematischen Medienangriffen zu ihrer endgültigen Destabilisierung.

Seit Anfang 2015 erlebt Michelle Bachelet den freien Fall ihrer Popularität. Konnte sie vor eineinhalb Jahren noch schwächliche 32 Prozent der Wählerzustimmung auf sich vereinen, so sind es nach jüngsten Erhebungen von Plaza Pública Cadem gerade noch alarmierende 24 Prozent. Mehr als Dreiviertel der Chilenen (74 Prozent) sind der Meinung, ihr Land befinde sich auf dem "Irrweg".

Die Staatspräsidenten sollte die Signale ernst nehmen.