Gehört Gewalt zur Natur des Menschen? Sigmund Freud glaubte das. Neurobiologen sagen heute: Sie ist eine Folge von sozialen Faktoren.
Aggression beruht auf den natürlichen Trieben des Menschen. So sah es Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, und lange war diese These wenig umstritten. Dass dem nicht so ist, zeigt der Freiburger Psychiater Joachim Bauer in seinem Buch „Schmerzgrenze“.
Darin hat er Daten aus allen Feldern der Wissenschaft gesammelt, um damit ein modernes Verständnis von Aggressivität und Gewalt zu schaffen. Neurobiologische Forschungen haben es möglich gemacht, mehr über die „Triebe“ der Menschen zu erfahren.
So besitzt das Gehirn ein Motivationssystem. Dort werden Botenstoffe ausgeschüttet, die uns ein gutes Gefühl geben, wenn wir bestimmte Erfahrungen machen oder uns auf bestimmte Art und Weise verhalten. Das wird dann als „Trieb“ bezeichnet.
Allerdings ist belegt, dass keinerlei Glücksbotenstoffe ausgeschüttet werden oder das Motivationssystem angeregt wird, wenn man jemandem Leid zufügt, ohne dass man provoziert wurde. Jedenfalls gilt das für Menschen mit gesunder Psyche. Das spricht gegen Freuds These.
„Angst und Aggression benützen im Gehirn sehr ähnliche Strukturen“, so Bauer. Es muss also ein Auslöser von außen kommen, der es nötig macht, mit Angst oder Aggression zu reagieren. Der Mensch reagiert also nur aggressiv, wenn es einen Auslöser gab - in den meisten Fällen ist das eine körperliche Attacke.
Auf Kränkung folgt Aggression
Die amerikanische Neuropsychologin Naomi Eisenberger fand jedoch heraus, dass das Gehirn soziale Ausgrenzung, Demütigung oder Armut genauso empfindet und mit Aggression beantwortet, wie wenn körperliche Gewalt zugefügt wird. Psychologen wissen schon lange, dass Kränkung aggressiv macht. Doch das wurde nun durch Eisenberger auch neurobiologisch bestätigt.
„Dabei werden Teile des neuronalen Schmerzsystems aktiviert, die eigentlich für die Wahrnehmung körperlicher Schmerzen zuständig sind. Das ist der Grund, warum wir nicht nur bei physischem Schmerz mit Aggression reagieren, sondern auch dann, wen man uns sozial zurückweist“, sagt Bauer.
Auch Charles Darwin wusste das schon. Er war der Meinung, dass Aggression zwar ein biologisches Verhaltensprogramm ist, jedoch immer als Reaktion.
Dass jedoch alle Menschen, die in Armut leben, gleich aggressiv sind, ist natürlich ein Trugschluss. Viel eher kommt es dazu, wenn Wohlstand und Armut aufeinandertreffen - im extremen Sinne. Denn dann fühlen sich die Ärmeren ausgegrenzt. Dazu hat Bauer sowohl soziologische als auch politische Studien untersucht.
So gibt es den „Gini-Index“, der die Ungleichverteilung von Vermögen oder Einkommen aufzeigt. Außerdem gibt es Daten über die Anzahl der jährlichen Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner, die sogenannte Homizid-Rate. Bauer hat beides verglichen und festgestellt, dass die Homizid-Rate größer ist, je mehr Ungleichverteilung herrscht.
Dass wir ein egalitäres, gleichmacherisches Gehirn haben, heiße nicht, dass es kommunistisch veranlagt ist, erklärt Bauer. Ein gewisses Maß von Ungleichheit werde toleriert. Jenseits einer gewissen Grenze werde die Ungleichverteilung der Ressourcen jedoch als unfair angesehen. „Krasse Armut im Angesicht von großem Wohlstand wird dann als Ausgrenzung und Ungerechtigkeit erlebt und mit Aggression beantwortet.“
Eine Ursache dafür sieht Bauer in unserer evolutionären Vergangenheit. Der Mensch habe sich im Verlauf von Millionen von Jahren zu einem „sozialen Tier“ entwickelt. „Zusammenhalt und Intelligenz waren und sind das evolutionäre Prinzip des Menschen.“
Wenn vor vielen Jahren, als die Menschen noch in Gruppen gelebt haben, jemand ausgegrenzt wurde, war das für die Person nicht nur eine Demütigung - es war ein Todesurteil. Daher wurde es wohl auch als körperlicher Schmerz gefühlt.
Doch das war erst der Anfang. Etwa 10.000 vor Christus kam es im Vorderen Orient zur Neolithischen Revolution. Die Menschen begannen, sesshaft zu werden, Ackerbau zu betreiben und Vieh zu züchten. „Der Einzug des ökonomischen Prinzips in das menschliche Zusammenleben war eine Zäsur“, meint der Neurowissenschaftler.
„Die mit der Sesshaftigkeit einhergehende Erfindung des Eigentums und die Notwendigkeit, Erwerbsarbeit zu leisten, bedeutete, dass man jetzt wissen wollte, für wen man schuftete.“ Der zivilisatorische Prozess setzte ein. Und mit ihm ein neues Moralsystem. „Meine These ist, dass die Formulierung erster ‚expliziter Moralsysteme' eine Reaktion des Menschen auf die massive Zunahme von Gewalt war, mit der der Mensch am Beginn der zivilisatorischen Epoche konfrontiert war.“
Im Gegensatz zu ‚impliziten Moralsystemen', die es schon seit Jahrhunderttausenden gegeben hat, seien explizite Moralsysteme Regeln, die als religiöse Verpflichtungen oder Rechtssysteme formal festgelegt worden seien. Damit wollte man den entstandenen Aggressionen Herr werden.
Doch trotz dieser neuen Erkenntnisse wird sich die weltweite Lage wohl nicht so bald entspannen. „Die Begrenzung globaler Ressourcen wird zu einer Zunahme von Verteilungskonflikten führen. Diese Situation bedeutet für den Menschen bereits heute eine Stresssituation, die sich in der Zukunft noch massiv zuspitzen wird“, ist Bauer überzeugt. Die Frage der Gerechtigkeit werde sich immer dringender stellen.
Allerdings kann man im überschaubaren Rahmen beginnen. Mobbing in Familien, Kindergärten, Schule und Arbeitsplätzen ist keine Seltenheit. Für Bauer ist es essenziell, solche Konflikte anzugehen. „Mobbing ist Gift.“ Man solle bei Konflikten aufeinander zugehen, miteinander reden und den Sachverhalt klären.
Wenn das nicht möglich sei und man sich trennen müsse, etwa in Arbeitsverhältnissen, sollte dies zügig und ohne eine längere Phase der sozialen Ausgrenzung oder Demütigung vollzogen werden. „Denn Mobbing schadet nicht nur dem ausgegrenzten Kollegen, sondern immer auch dem Arbeitgeber.“
Durch solche Situationen kommt es auch zur „verschobenen Gewalt“. Dabei staut sich die Wut kontinuierlich in einem auf. Und irgendwann platzt die Bombe: Die betroffene Person lässt ihre Wut raus, meist zu völlig unverständlichen Zeitpunkten und an unbeteiligten Personen. Diese verschobene Gewalt wirkt wie ein Urtrieb - auch wenn es definitiv keiner ist.
Ein weiterer Grund für scheinbar unnötige Aggression kann in der Kindheit liegen. Auch hier kann ein Kind Ausgrenzung erfahren, indem es keine Bindungsperson hat. Seien es nun die Eltern, Geschwister oder Verwandten, irgendjemand sollte dem Kind das Gefühl geben, dass es jemandem viel bedeutet, und man es unterstützt.
„Kinder, die keine tragfähigen Beziehungen zu ihren Eltern haben, leben im Zustand der permanenten Ausgrenzung. Eine solche Situation ist ein Risikofaktor für spätere aggressive Verhaltensstörungen“, erklärt Bauer.
Dass das an sich keine neue Erkenntnis ist, weiß er. Doch dank Eisenberger kann man das Verhalten nun erklären, auch aus neurobiologischer Sicht. Und unter Umständen hilft dieses Wissen dabei, neue Wege gegen Gewalt zu finden.
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