Krankenkasse
Studenten, Selbstständige, Obdachlose: Trotz gesetzlicher Pflicht können sich in Deutschland heute offiziell 80.000 Bürger keine Krankenversicherung leisten - die Dunkelziffer ist hoch. Spendenfinanzierte Notfallpraxen arbeiten unter Hochdruck.

Anke lächelt nicht mehr. Sie schämt sich für zwei große Zahnlücken in ihrem Mund. "Du schaffst schöne Dinge für deine Kunden und kannst dir nicht mal ein vernünftiges Gebiss leisten", sagt die selbstständige Designerin und presst ihre Lippen zusammen. Der Grund für ihre Lage: Während einer beruflichen Durststrecke löschte sie den Dauerauftrag an ihre Krankenkasse. Inzwischen hat sie dort mehrere Tausend Euro Schulden - und nur noch Ansprüche im medizinischen Notfall.

Ärzte leisten ehrenamtlich Nothilfe

Die Mittvierzigerin ist kein Einzelfall. Mediziner, die Menschen ehrenamtlich in spendenfinanzierten Notpraxen helfen, berichten von einer wachsenden Anzahl von Patienten.

Zu jenen, die sich ihre Beiträge zur Krankenversicherung nicht mehr leisten konnten und jetzt auf Gratishilfe angewiesen sind, zählen geringverdienende Selbstständige, aber auch privat versicherte Angestellte oder Studenten, die nicht mehr familienversichert sind. Hinzu kommt eine große Anzahl von Obdachlosen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts sind in Deutschland trotz Versicherungspflicht etwa 80.000 Bundesbürger nicht krankenversichert. Die Dunkelziffer ist Experten zufolge noch weitaus höher. Hinzu kommen Tausende nichtversicherte EU-Bürger und geschätzt bis zu einer halben Million Menschen, die in Deutschland in der Illegalität leben.

"Mehr als 70 Prozent unserer Patienten leben auf der Straße"

Um all diese Menschen kümmern sich in vielen deutschen Städten und Kommunen ehrenamtlich engagierte Ärzte und Pflegekräfte. Die "Malteser Migranten Medizin" etwa behandelt zu 90 Prozent Patienten, die aus dem Ausland kommen. "Wir können diese Leute in akuten Notlagen ja nicht im Regen stehen lassen", sagt eine Ärztin aus Frankfurt am Main im Gespräch mit heute.de.

Wie dringend nötig unbürokratische Hilfe auch für deutsche Patienten ohne gültige Krankenversicherung ist, zeigen Berichte aus anderen Notfallpraxen.
"Mehr als 70 Prozent unserer Patienten leben auf der Straße, sie haben keine Krankenversichertenkarte und viele nicht mal einen Personalausweis",
sagt Dr. Jenny de la Torre. Mit einem Team von Ärzten, Helfern, Psychologen und Sozialarbeitern betreibt die aus Peru stammende Medizinerin in Berlin-Mitte ein Gesundheitszentrum für Mittel- und Obdachlose, das komplett über Spenden finanziert wird.

Viele meiden Arztbesuch zu lange - aus Angst vor den Kosten

Die Wartezimmer sind häufig brechend voll. Etwa 3500 Patienten hat die Praxis. Tendenz steigend.
"In der Vergangenheit hatten wir jährlich um die 300 Neu-Patienten - aber im letzten Jahr waren es dreimal so viele",
sagt de la Torre. Viele dieser Menschen haben einen Arztbesuch zu lange gemieden, aus Angst vor den Kosten. Die Folge seien oft "schwere, multiple Krankheitsbilder", sagt Jenny de la Torre.
"Das Ausmaß an Elend und Verwahrlosung, das wir hier sehen, ist schockierend."
Offene Wunden, komplett kaputte Zähne, Infektionskrankheiten, Krätze, Läuse, Parasiten. Dazu Suchtkrankheiten und Spuren von Gewalt. Eine massive Zunahme von psychischen Krankheiten. Was Jenny de la Torre und ihre Kollegen tagtäglich zu Gesicht bekommen, ist selbst für die erfahrenen Notfall-Mediziner schwer zu ertragen. De la Torre spricht von der "Krankheit Obdachlosigkeit" als "gesellschaftlicher Katastrophe" und berichtet, wie das Leben auf der Straße, der Dauerstress, die mangelnde Hygiene und unzureichende Ernährung die Menschen zerstöre.

Ärztin fordert "unbürokratischere" Hilfe für die Schwächsten

Allein in Berlin leben geschätzt 11.000 Menschen auf der Straße, in Parks, unter Brücken. Jenny de la Torre, für ihr langfristiges Engagement unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, mahnt dringend Fortschritte im deutschen Gesundheits- und Sozialsystem an, "weil das Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit an oberster Stelle steht und nicht von der finanziellen Lage abhängig sein sollte".

Die Ärztin fordert "schnellere, unbürokratischere" Hilfe für die Schwächsten. "Sie sind doch Menschen wie wir alle und keine Bürger zweiter Klasse!" Um die Leute von der Straße wegzuholen und zu reintegrieren, müsse die Politik mehr unternehmen.

Große Zahnlücken, kein Lächeln

Um beitragssäumigen Versicherten wie etwa der Designerin Anke zu helfen, gibt es immerhin den so genannten Notlagentarif der Privaten Krankenversicherungen. Wie der Name sagt, erhält der Versicherte dabei Leistungen in allen akuten Fällen. Dazu zählen schmerzstillende Zahnbehandlungen inklusive nötiger Füllungen, aber keine neuen Zähne, wenn sie gezogen werden mussten.

Anke hofft, dass ihre Geschäfte so gut laufen wie zuletzt, sodass sie ihre Krankenversicherungsbeiträge nachzahlen kann. Und: "Die Lücken müssen weg", sagt sie. Bis dahin verkneift sie weiter ihr Lächeln.