Lange verachtete die Wissenschaft die Träume. Jetzt erkennt sie deren Wert: Im Traum legen wir das Fundament unseres Bewusstseins.
Schlafen
© Jan von HollebenTräume in Szene gesetzt: Der Berliner Fotograf Jan von Holleben hat mit der Kamera "geträumt".

Die Renaissance der Traumforschung begann mit heftigem Schwindel. Am 1. Februar 2001 saß Allan Hobson, der einflussreichste Schlafforscher der letzten Jahrzehnte, mit seiner Frau Lia beim Frühstück. Plötzlich drehte sich alles um ihn. Hobson, damals 68, presste seinen Kopf auf den Tisch, um das Gleichgewicht zu halten. Lia, eine Neurologin, erkannte die Symptome eines Schlaganfalls und brachte ihren Mann ins Krankenhaus. Eine Arterie in seinem Hirnstamm war geplatzt.

Der Schlaganfall brachte auch Hobsons Schlaf durcheinander. In den ersten zehn Tagen schlief er überhaupt nicht. Seine Träume blieben noch länger aus. Stattdessen hatte er im Wachen furchtbare Halluzinationen - so als wollte sein Gehirn dringend träumen. Sein erster Traum, 38 Tage nach dem Schlaganfall, kam just in jener Phase, in der er auch das Gehen wieder lernte. Das war kein Zufall, davon ist Hobson überzeugt - erst träumend habe sein Gehirn die grundlegenden Fähigkeiten wiedererlangt. Mittlerweile glaubt er sogar: »Ohne Träume gibt es kein Bewusstsein.«

Ausgerechnet Allan Hobson! Der Psychiater hatte die Träume einst mit aller Macht den bisherigen Traumdeutern entreißen wollen, er hat sie gar zum sinnlosen Abfallprodukt der Hirntätigkeit degradiert. Hobson war zumindest mitverantwortlich dafür, dass seriöse Wissenschaftler um dieses Thema einen großen Bogen machten. Jener Hobson also philosophiert heute darüber, dass man ohne Träume erhebliche Schwierigkeiten im Wachzustand bekommt. Und wenn eine Koryphäe umdenkt, folgen ihr häufig andere. Träume sind in den vergangenen Jahren in den Fokus der Forschung gerückt - nachdem sie viele Jahrzehnte lang links liegen gelassen wurden. Hirnforscher ergründen ihre physiologische Grundlage. Psychologen untersuchen ihre Form und ihren Inhalt, Psychiater ihren Einfluss auf unser Seelenleben. Der aktuelle Forschungsstand der verschiedenen Disziplinen lässt ein Bild entstehen, in dem das Träumen nicht weniger ist als ein eigener Bewusstseinszustand.

Wie alltäglich und zugleich seltsam dieses Phänomen doch ist! Seit Urzeiten machen sich die Menschen Gedanken darüber, was ihnen Nacht für Nacht im Kopf herumspukt. Die frühen Kulturen verstanden Träume als göttliche Ratschläge und Warnungen. Noch im Mittelalter galten sie als Vorboten künftiger Ereignisse. Zum Gegenstand systematischer Untersuchung wurden sie jedoch erstaunlich spät, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Erst Sigmund Freud ersetzte die alte Deutung des Traums als übersinnliche Botschaft.

Sein Schlüsselerlebnis hatte Freud im Sommer 1895, er behandelte gerade eine Patientin namens Irma, doch die Therapie stockte, er konnte ihr nicht helfen. Eines Nachts hatte er einen merkwürdigen Traum, der ihn nicht losließ. Ein befreundeter Arzt setzte Irma eine Spritze. Dann kam ihm die Erkenntnis: Hinter der nächtlichen Szene musste eine sexuelle Wunschvorstellung stecken, wenngleich verschlüsselt! Die Injektion stand dabei für den Geschlechtsakt. Dass er sich zu Irma hingezogen fühlte, hatte er sich wach nie eingestanden. Im Traum lebte sein Unbewusstes offenbar einen unterdrückten Wunsch aus - verzerrt bis ins Unkenntliche, um die Kontrollinstanz im Gehirn, den »inneren Zensor«, zu überlisten. Die nächtliche Fantasie hatte ihn auf die wichtigste Idee seines Lebens gebracht: Träume als unbewusste Wünsche zu interpretieren. Irmas Injektion ist die erste Geschichte, die er in seinem Hauptwerk Die Traumdeutung analysierte. Träume und ihre Analyse waren für ihn der »Königsweg zum Unbewussten«.

Was dem epochalen Werk allerdings fehlte, waren Begründungen. Dabei hatte sich der Nervenarzt Freud, der in Wien die Scherenmuskeln von Krabben untersucht und in Paris Kinderhirne seziert hatte, ursprünglich ein ambitioniertes Forschungsprogramm im Sinn gehabt: »psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile und sie damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen«. Doch für einen solchen Brückenschlag zwischen Psychologie und Physiologie fehlte zu seinen Lebzeiten einfach das Instrumentarium. Notgedrungen musste er sich auf die Interpretation beschränken - und seine Theorie wie eine Offenbarung in die Welt setzen. Nichtsdestoweniger sollte sie jahrzehntelang die Psychologie dominieren.

Auch in den 1960er Jahren noch, als Allan Hobson begann, an der Harvard University Medizin zu studieren. Seine Abschlussarbeit schrieb der angehende Psychiater über Freud und Dostojewskij. Bald aber kamen ihm Zweifel am Paradigma von den chiffrierten Botschaften aus dem Unbewussten. Genährt wurden sie durch ein drastisches Experiment: In den 1970er Jahren pflanzte Hobson gemeinsam mit seinem Kollegen Bob McCarley Katzen Elektroden ins Hirn und zerstörte Nervenbahnen in ihrem Hirnstamm - die Tiere verloren den besonders traumreichen REM-Schlaf (benannt nach der typischen heftigen Augenbewegung, rapid eye movement).

Träumen als Erbe von amphibischen Urahnen

Hobson und McCarley folgerten daraus, dass die nächtlichen Visionen jenen basalen Gehirnarealen entspringen, welche die Säugetiere von ihren amphibischen Urahnen geerbt haben - und die ganz sicher nicht Sitz des Bewusstseins sind. Ein trügerischer Anschein von Sinn entstehe nur, wenn jene Bereiche, in denen die höheren Hirnfunktionen sitzen, in den Signalen aus den Tiefen etwas zu erkennen versuchten (ganz ähnlich wie Traumdeuter in den Schilderungen nächtlicher Fantasien). In Wirklichkeit sei da aber nichts als »Neuronengeflimmer« - ein Ausdruck, der gleichsam zum Mantra der Traumverächter wurde.

Träume gerieten daraufhin bei Wissenschaftlern in Verruf. Sich mit ihnen zu beschäftigen galt lange als karrieregefährdend. Sich abfällig darüber zu äußern gehörte zum guten Ton. Der Medizin-Nobelpreisträger Francis Crick erdachte gar eine »Müllentsorgungstheorie der Träume«: Im Schlaf entledige sich das Gehirn bloß überflüssiger Informationen, um Speicherplatz frei zu räumen...

Erst ein weiterer spektakulärer Tierversuch erschütterte diese Sichtweise. Matthew Wilson, Schlafforscher am Massachusetts Institute of Technology, stieß Mitte der 1990er Jahre auf einen eindrucksvollen Hinweis, dass die Wahrheit über unsere Träume komplexer sein muss. Wilson erforschte mittels winziger Elektroden die Aktivität einzelner Neuronen im Gehirn von Ratten. Dazu ließ er die verkabelten Tiere in einem Labyrinth nach Schokolade suchen und zeichnete die neuronalen Muster auf, die diese Orientierungsläufe hinterließen.

Eines Abends vergaß Wilson, die Messapparatur abzuschalten. Da bekam er bei einem Tier, das eingeschlafen war, etwas Erstaunliches zu sehen: Dessen schlafendes Hirn spielte die Muster vom Tage nochmals durch. Das Neuronenfeuer wiederholte sich so präzise, dass Wilson sogar verfolgen konnte, an welcher Verzweigung des Labyrinths sich das Tier gerade glaubte. »Je länger ich auf die Kurven schaute, desto deutlicher wurde mir: Wir sahen eine Ratte träumen«, erinnert sich Wilson heute. »Zu sehen, dass die Tiere im Geiste buchstäblich wieder durch das Labyrinth laufen, war mit Abstand das Erstaunlichste, das ich je erlebt habe.«

Inzwischen haben andere Forscher mit schonenderen Methoden entsprechende Beobachtungen auch bei Menschen gemacht: Nachts spielen wir nach, was wir tagsüber erlebt haben. Allerdings sind, wie jedermann aus eigener Erfahrung weiß, die wenigsten Träume getreue Replikate der Erlebnisse im Wachzustand. Die meisten von ihnen greifen Erinnerungsfragmente auf und kombinieren sie in neuen, oft bizarren Bildern zum nächtlichen Kopfkino. Doch wozu? Als feststand, was unsere Träume nicht sind (codierte Botschaften, sinnloses Geflimmer), drängte sich stärker denn je die eigentlich zentrale Frage auf: Welchem Zweck dienen Träume? Inzwischen weisen die Experimente der Forscher in eine deutliche Richtung - das nächtliche Kopfkino macht uns fit für die Wirklichkeit.

Träumen macht schlauer

Das zeigte vergangenes Jahr ein Versuch des Harvard-Forschers Robert Stickgold und seiner Kollegin Erin Wamsley. Die beiden ließen 99 Freiwillige eine Dreiviertelstunde lang ein Computerspiel spielen, in dem diese Gegenstände in einem Labyrinth suchen mussten. Danach durfte die Hälfte von ihnen ein Nickerchen machen, während die andere Hälfte Videos guckte. Dann folgte eine zweite Runde Computerspiel - mit überraschendem Ergebnis: Die vier Probanden, die während des Schlafens von dem Spiel geträumt hatten, machten einen gewaltigen Leistungssprung. Sie waren plötzlich zehnmal besser als die anderen Schläfer! Offenbar trainiert das träumende Gehirn das, was es tagsüber erlebt hat. Und mehr noch, es kommt auch auf völlig neue Ideen. Eine ganze Reihe von Experimenten zeigte, dass Träume nicht nur Erinnerungen festigen, sondern allerhand neue Einsichten hervorbringen können. Während das Gehirn die Erlebnisse des Tages durchspielt, sucht es offenbar nach neuen Zusammenhängen.

Träumen heißt fühlen

Ein Vergleich des Bildgedächtnisses von Träumern und Wachgebliebenen ergab, dass sich das Hirn im Traum nicht mit allen Eindrücken gleichermaßen beschäftigt, sondern besonders mit emotional stark besetzten. Der Traumschlaf verstärkte vor allem die Erinnerung an Bilder, welche die Probanden mit wichtigen eigenen Erlebnissen verbanden. Das ist plausibel, denn im traumreichen REM-Schlaf sind gerade jene Gehirnzentren besonders aktiv, die unsere Gefühle und Affekte bestimmen. Das träumende Gehirn ist ein emotionales Gehirn. Es funktioniert ein bisschen so wie unter Alkohol - enthemmt, launisch, irrational. Träume strotzen geradezu vor Gefühlen: Angst, Aggression, Begierde, Freude.

Träumen nordet unseren emotionalen Kompass ein

Der kalifornische Schlafforscher Matthew Walker hat gezielt Gefühlsreaktionen bei Testpersonen untersucht. Es war bereits bekannt, dass Menschen im Tagesverlauf normalerweise immer sensibler auf Gesichter reagieren, die Ärger oder Furcht ausdrücken. Man könnte sagen, wir werden im Laufe einer Wachperiode zusehends empfindlicher. Der Wissenschaftler konnte schließlich nachweisen, dass eine gute Portion traumgespickten REM-Schlafs diese Neigung korrigiert - und seine Probanden gleichzeitig wesentlich empfänglicher für fröhliche Gesichter machte.

Das Gehirn löst offenbar die Ereignisse des Tages von den damit verbundenen Emotionen und bewertet sie neu. Bloß, wenn Träume aufheiternd wirken, warum sind sie dann so häufig von negativen Gefühlen dominiert? Gerade deshalb, glaubt Matthew Walker. Negativ besetzte Erlebnisse noch einmal in einem anderen chemischen Hirnzustand durchzumachen nehme den Erinnerungen ihre emotionale Schärfe. Walker spricht von redressing: Erinnerungen werden in Träumen von Emotionen »entkleidet«, damit sie dann neu eingekleidet werden können. Inzwischen deutet eine ganze Reihe von Studien in diese Richtung.

Träumen bringt uns ins Gleichgewicht

Besonders beeindruckend ist ein Versuch, den Forscher gerade am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie beendet haben. Es ging um Angst. Victor Spoormaker und seine Kollegen ließen eine Gruppe von Testpersonen normal schlafen, der zweiten Gruppe wurde der REM-Schlaf vorenthalten. Danach wurde allen Probanden immer wieder eine Reihe geometrischer Formen gezeigt. Und bei einer ganz bestimmten Form, beispielsweise einem Kreis, verpassten die Forscher ihnen - nicht gerade zimperlich - kleine Elektroschocks. Die Kreisform verband sich in den Köpfen der Probanden allmählich mit der Angst vor dem Schock, sodass bald der bloße Anblick eines Kreises genügte, um Angstschweiß hervorzurufen. Diese Angstreaktion wurde mit der Zeit schwächer, nachdem die Elektroschocks ausblieben - bei den Probanden mit Traumdefizit aber verblasste dieses Muster spürbar langsamer. Kurz gesagt: Die Versuchspersonen, denen Spoormaker ihren REM-Schlaf ließ, zeigten ein intelligenteres Angstverhalten. Die Nichtträumer blieben länger unnötig ängstlich.

Die Funktion der Träume in unserem Seelenleben ist noch längst nicht in allen Einzelheiten geklärt. Versuche wie die der Münchner zeigen aber: Sie balancieren unsere Gefühle aus - normalerweise. Heikel wird es, wenn das Gehirn vergeblich versucht, ein Angstmuster aufzulösen, und sich dieses dabei immer tiefer einprägt.

Freud hat die Träume nicht überschätzt - er hat sie unterschätzt

Die empirische Erforschung der Träume zeigt, dass der Pionier Freud ihre Rolle nicht über-, sondern eher unterschätzt hat. Auch Allan Hobson war lange auf dem Holzweg. Inzwischen glaubt er, dass wir uns im Traum buchstäblich selbst erfinden: Wir legen das Fundament für unser Wachbewusstsein, indem wir uns durch eine selbst konstruierte virtuelle Welt bewegen, inklusive der grundlegenden Funktionen unseres Bewusstseins, Wahrnehmung und Gefühle. »Protobewusstsein« nennt Hobson diesen Zustand. Darauf gründeten alle höheren Funktionen: abstraktes Denken, Selbstreflexion, Einsichts- und Urteilsvermögen. Hobsons Protobewusstsein liegt - anders als das freudsche Unbewusste - nicht im Clinch mit dem Bewusstsein. Ganz im Gegenteil: Es ist sein wichtigster Bestandteil, die Basis. Für Hobson sind die Träume der Königsweg zum Bewusstsein.

Viele andere Forscher sehen die Sache mittlerweile ähnlich. Einige vertreten zudem die Theorie, dass wir im Traum, wie in einem Weltsimulator, unsere überlebenswichtigen Instinkte üben. Andere glauben, im Schlaf stellten wir unsere kognitiven Fähigkeiten auf die Reizflut der Wachwelt ein (»Priming«). All diese Theorien haben einen gemeinsamen Kerngedanken: Träume bereiten unser Bewusstsein auf das Wachleben vor.

Und längst verfolgen die Wissenschaftler eine neue Vision: Was mit Traumdeutung begann, könnte irgendwann zur Traumbeobachtung führen. Mit ihren immer scharfsichtigeren Hirnscannern können die Forscher bereits unterscheiden, ob eine wache Versuchsperson beispielsweise gerade an ein Gesicht denkt oder an ein Haus. In speziellen Fällen funktioniert das auch schon im Schlaf. Die Chancen stehen gut, bald aus den Aktivitätsmustern genauer herauslesen zu können, wovon jemand gerade träumt. Japanische und amerikanische Arbeitsgruppen haben bereits »Traumrekorder« angekündigt. Sollten solche Geräte tatsächlich einmal entwickelt werden, dann könnten sie zwar nicht das nächtliche Kopfkino in Videofilme umwandeln, aber vielleicht das Neuronenfeuer so präzise aufzeichnen, dass Kundige darin Grundzüge eines Inhalts erkennen.

Manche Forscher - und spätestens hier klingt es für den Alltagsträumer nach Science-Fiction - glauben sogar, dass man eines Tages Trauminhalte wird manipulieren können. »Im Tierversuch sind wir bereits an diesem Punkt«, sagt Matthew Wilson. »Bis wir es bei Menschen können, wird es noch eine Weile dauern, aber es wird geschehen.«

Träume waren einst das Privateste und Geheimnisvollste, das ein Mensch erleben konnte. Nun haben sie nicht nur den Ruf verloren, chiffrierte Botschaften zu enthalten. Sie werden auch immer zugänglicher. Verlieren sie damit ihren Zauber? Nicht unbedingt: »Ich muss keinen tiefen Sinn in meinen Träumen suchen«, sagt Allan Hobson, der nach dem Schreckerlebnis seines Schlaganfalls heilfroh ist, wieder regelmäßig zu träumen. »Ich liebe sie so, wie sie sind.«

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unter www.zeit.de/audio