Hirnwellen
© UnbekanntHirnwellen - elektrische Impulse auf den Nervenbahnen - könnten eine größere Bedeutung für die Organisation von Wissen haben als angenommen.

Seit Jahren fahnden Neurowissenschafter nach dem "Ordnungssinn" des Gehirns - Nun stellen sie fest: Die Hirnwellen sorgen dafür, dass Nervenzellen sinnvoll miteinander kommunizieren

Kaja ist knapp über zwei Jahre alt. Mit Begeisterung ruft sie: "Da - ein blauer Mini. Fährt er nach Hause?" Während die Eltern noch sekundenlang mit den Blicken nach dem Gefährt suchen, das dem eigenen gleicht, hat Kaja es längst ausgemacht.

"So funktioniert selektive Wahrnehmung", sagt Wolfgang Klimesch, Leiter der Abteilung für Physiologische Psychologie an der Universität Salzburg. Er widmet sich einem der größten Rätsel des menschlichen Körpers: der Ordnung des Gehirns. Warum kann es arbeiten, ohne sich dabei in der Vielfalt seines gespeicherten Wissens zu verlieren? Oder, wie es Klimesch ausdrückt: "Wie bewältigt es die alles entscheidende Aufgabe, gezielt das Wissen abzurufen, das gerade notwendig ist?"

Klimesch hat eine Theorie. "Hirnwellen", sagt er, "haben die Kraft, Informationen zu filtern." Sie wirken als Verstärker - oder aber sorgen dafür, dass nicht jeder elektrische Impuls einer Nervenzelle bis zu ihrem eigentlichen Verarbeitungszielort gelangt. Die Behauptung ist so gewagt wie spannend. Galten doch Hirnwellen, die je nach Aktivität in fünf Arten auftreten, über Jahrzehnte lediglich als probates Mittel, per EEG (Elektroenzephalografie) Epilepsie, Tumore oder andere Hirnstörungen zu diagnostizieren.

Lange hatten Neurophysiologen, -biologen und Hirnscan- Experten die Gebiete Wahrnehmung, Erinnerung und Lernen unter sich aufgeteilt. Ihre Erkenntnisse bleiben unbestritten: Sie untersuchten, wie neue Kontakte zu anderen Nervenzellen gebildet werden, warum man verlorene Sprache wieder erlernen kann, machten Schaltkreise sichtbar, fanden heraus, welche Hirnbereiche zum Lernen und Bewerten, welche für Angst und Euphorie aktiviert werden.

Eines jedoch ist den Wissenschaftern nicht gelungen: Die Organisation des Hirns zu durchschauen. Nach wie vor bleibt unklar, wie in den chaotischen Strukturen des Gehirns regelhafte Abläufe überhaupt möglich sind. Die ersten Ahnungen lieferte vor knapp zehn Jahren der deutsche Hirnforscher Wolf Singer. Er beobachtete, dass sogenannte Gamma-Wellen in verschiedenen Hirnarealen synchron auftreten und diese, so Singers Vermutung, koordinieren würden. Damit war der Startschuss für einen Forschungszweig gefallen, der zuvor lediglich von einer überschaubaren Gruppe von Wissenschaftern bearbeitet wurde - wie etwa von Wolfgang Klimesch.

Reizschwelle und Reaktion

Dieser sieht seine Hirnwellen-Theorie heute vielfach bestätigt. "So weiß man etwa, dass die Hirnwellen nur von den Dendritenbäumen ausgehen, also von dem Ort, an dem die Nervenzelle ihre Information aufnimmt", erklärt er. Dabei müssen die Reize eine gewisse Schwelle überschreiten, damit die nachfolgende Zelle reagiert. "Und genau diese Reizstärke wird von den Schwingungen moduliert", sagt Klimesch.

Kommen die Informationen in einem Wellenberg, also mit einer positiven Ladung, an der Übertragungsstelle an, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Reizschwelle überschreiten, sehr groß.

Die viel wichtigere Erkenntnis aber veröffentlichte Klimesch letztes Jahr im Fachjournal Brain Research: Die Wellentäler der sogenannten Alpha-Hirnschwingungen sorgen dafür, dass Informationen nicht weiterverarbeitet werden. Sie stoppen eine unkontrollierte Ausbreitung. "Wie dieser Vorgang gesteuert wird, ist noch völlig unklar", sagt Klimesch.

Aber: Da die Wellen in verschiedenen Bereichen des Hirns auftreten, sei es durchaus wahrscheinlich, dass sie die Kommunikation zwischen den Hirnarealen steuern, "also vernetztes Denken ermöglichen und gleichzeitig vor überschüssiger Information schützen". Den ersten experimentellen Beweis dafür, wie wichtig Hirnwellen für die räumliche Erinnerung sind, lieferte ebenfalls ein Österreicher. Stefan Leutgeb von der University of California San Diego beschrieb im April in Science, welch fatale Auswirkung das "Abschalten" von Theta-Hirnwellen auf die Orientierung von Ratten hat (siehe Interview).

Ratten ohne Orientierung

Mithilfe eines Narkosemittel konnte Leutgeb die Theta-Hirnwellen von Ratten für die Dauer von zehn Minuten abschalten. Das Resultat: Für genau diesen Zeitraum vergaßen die Nager alle räumlichen Informationen, die sie zuvor gelernt hatten. "Viel wichtiger ist die Tatsache, dass die Erinnerung wieder voll einsetzte", sagt Leutgeb. Damit bestätigt er indirekt die Ergebnisse von Klimesch: Die Information wurde nicht gelöscht, sondern lediglich kurzfristig stillgelegt.

Sollte das Prinzip tatsächlich auf alle Erinnerungs- und Denkvorgänge anwendbar sein, wäre den Forschern ein unvergleichlicher Durchbruch gelungen: die Sprache des Gehirns zu verstehen. Nur, so Leutgeb und Klimesch unisono: "Es lässt sich so unglaublich schwer beweisen." (Edda Grabar/DER STANDARD, Printausgabe, 17.08.2011)