Revolution Russland 1917
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Die Eidgenossen sind nicht Schuld an der Oktoberrevolution 1917 in Russland. Das sagt die Genfer Historikerin Korine Amacher. Die Schweiz hat trotz des verbreiteten Antikommunismus die russischen Revolutionäre aufgenommen und ihnen Asyl geboten, so die Wissenschaftlerin. Sie verweist auf die sozialen und politischen Ursachen der Revolution.

Alle künftigen Führungskräfte des Sowjetstaates einschließlich Lenins haben sich vor der Revolution lange in der Schweiz aufgehalten und kehrten nach Russland zurück. Doch das heißt für Korine Amacher, Professorin für die Geschichte Russlands an der Universität Genf, nicht, dass die Schweiz an der Revolution 1917 schuld ist. Die Revolutionäre hätten in der Schweiz Asyl gefunden, weil die Schweiz eine Demokratie gewesen sei.

Das sagte sie im Interview mit Sputnik-Korrespondent Nikolaj Jolkin am Rande einer wissenschaftlichen Konferenz im Moskau, "Sie war auch gegenüber jenen tolerant, die gegen die russische Autokratie ankämpften. Das bedeutet aber gar nicht, die Schweiz hätte eine Revolution in Russland gewünscht."

"Einige behaupten, es sei ein fürchterlicher Umsturz gewesen, herbeigeführt durch eine Handvoll Fanatiker", so die Historikern. "Solide Wissenschaftler sind der Meinung, dass der Oktober-Umsturz in einem ausgedehnteren sozialen und politischen Kontext zu betrachten ist. Der Oktober bildete den Abschluss einer sehr langen Periode, die nicht erst im Februar 1917, sondern schon 1905 begonnen hatte."

Das Versagen der alten Eliten führte zur Revolution

Amacher selbst sieht die Ursachen der Revolution in der sozialen und politischen Lage des damaligen Russlands. "Eine große Rolle hatte auch der erste Weltkrieg gespielt. Die katastrophale Situation im Lande und die Unfähigkeit der herrschenden Eliten zu regieren, förderte die Machtübernahme durch die Bolschewiken. Die Gesellschaft war gespalten."

Im Herbst 1917 habe in Russland jedermann die Macht an sich reißen können. Aber nur die Bolschewiken hätten entschlossen gehandelt, so die Genfer Wissenschaftlerin. Und ihre Widersacher seien dadurch in die Rolle passiver Beobachter zurückgedrängt worden. Allen sei klar gewesen, dass die Bolschewiki einen Aufstand vorbereiteten, außer der bürgerlichen Provisorischen Regierung.

"Darüber hinaus wurden die Losungen der Bolschewiki von vielen im Lande befürwortet: Frieden, Land, Freiheit für alle Völker", erinnerte Amacher. "Eine andere Sache ist, was nachher passierte, aber vor dem Oktober 1917 waren diese Losungen attraktiv."

Asyl für Revolutionäre trotz Antikommunismus

Die russischen Revolutionäre dürften trotz des starken Antikommunismus in der Schweiz leben und ihre Revolution vorbereiten, so die Historikerin:

"Die bürgerliche Februarrevolution und der Sturz der Autokratie wurden nie negativ in der Schweizer Presse bewertet. Aber die Einschätzung des Oktobers ändert sich ganz, wenn man das Ausmaß jenes Wandels unter den Bolschewiken im Ganzen einsieht. Auch die bürgerliche Presse von damals reagierte auf diese Revolution ausgesprochen negativ."

Im November 1918 fand in der Schweiz erstmals ein allgemeiner Streik statt. Die Regierung und die rechte Presse seien sich sicher gewesen, dass hinter diesem Streik die Bolschewiki standen, erklärte Amacher. Dies habe viele im Lande erschreckt, "obwohl wir heute wissen, dass die Bolschewiken damit nichts zu tun hatten. Nur die soziale Lage war in der Schweiz halt sehr schwer nach dem Krieg."

Ist der Antikommunismus tot?

Von dem Ausmaß des Antikommunismus in der Schweiz zeugt aus Sicht der Historikerin die Ermordung des russischen Diplomaten und angesehenen Bolschewiken Wazlaw Worowski in Lausanne 1923 durch den russischen Auswanderer Maurice Conradi. "Er wurde von dem Geschworenengericht jedoch freigesprochen. Infolgedessen wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Sowjetrussland abgebrochen und lange Zeit, bis zu 1946, nicht wiederhergestellt."

Heute sei der Antikommunismus tot, so Amacher. "Er kam nach der Perestroika in der UdSSR, nachdem die Sowjetunion verschwunden war, weltweit aus der Mode und stellt nur noch Geschichte und einen Forschungsgegenstand für Historiker dar."