Seit Wochen greifen vor der Küste Spaniens und Portugals Orcas (auch Killerwale genannt) immer wieder Boote an. Inzwischen hat Spanien ein Segelverbot verhängt, um die Tiere und Menschen zu schützen. Experten rätseln über die Ursache. Ein Seeman, der seit 40 Jahren aktiv ist, hat so etwas noch nie erlebt.
Orca family pod killer whale
© Paul Nicklen/NGS Image CollectionOrca family pod
Warum verhalten sich die Wale so? Ein Experte vermutet Vergeltung, andere machen Stress verantwortlich.

Die Fassungslosigkeit stand dem alten Haudegen mit dem weißen Vollbart nach dem Zwischenfall noch lange ins Gesicht geschrieben. "So etwas hatte ich noch nie gesehen, und dabei bin ich schon seit 40 Jahren Seemann und habe einiges erlebt", erzählt Cándido Couselo Sánchez im Video. Der spanische Korvettenkapitän war am Steuer der Mirfak, als der Marinesegler vor gut einem Monat, am 30. August, zwei Seemeilen vor der Küste der Region Galicien, wie aus heiterem Himmel von Schwertwalen attackiert wurde.

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Anscheinend haben die Orcas sogar Ruder gefressen. Das Verhalten der Tiere ist ungewöhnlich. Normalerweise greifen sie keine Boote an.
Der Angriff wurde von der Crew auf Video festgehalten. Man hört die Schreie der verblüfften Seeleute: "Boah, was für ein Riesenvieh!" und "Er hat uns erwischt!". Nachdem die Tiere vom Boot ablassen, deutet jemand auf einen Punkt im Meer und sagt:
"Da, die sind da geblieben und fressen unser Ruder! Sie fressen unser Ruder!"
Die Überraschung war groß, denn die erfahrene Crew wusste: Die bis zu zehn Meter langen und bis zu sechs Tonnen schweren Orcas attackieren zwar andere Meeresgiganten und verspeisen neben Thunfischen, Heringen, Robben, Pinguinen und Seevögeln auch Delfine, andere Wale und sogar Haie. Sie gehen dabei teils ziemlich brutal vor - und wurden deshalb von Fischern "Killerwale" getauft. Auf Menschen oder Schiffe hatten es die Orcas - die der breiten Öffentlichkeit unter anderem von den "Free Willy"-Filmen bekannt sind - bisher aber nicht abgesehen.

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Inzwischen wurden bereits mindestens 21 dieser Vorfälle registriert.
Regierung verhängt Segelverbot

Denn vor dem Angriff auf die Mirfak hatte es im Juli und August bereits sechs Attacken an der Straße von Gibraltar, vier vor der Küste Portugals und auch eine vor der Küste Galiciens gegeben. Dann kam es im September vor der Nordwestküste Spaniens nach Berichten gleich zu mindestens 15 weiteren Zwischenfällen. Die Sequenz macht Sinn: Schwertwale ziehen im Sommer von der Küste Andalusiens durch portugiesische Gewässer hinauf zum Biskaya-Golf - den Thunfischen hinterher.

Die Forscher rätseln. Fischer und Segler zittern. Und die Behörden handeln. Denn die Lage ist ernst. Das Verkehrsministerium in Madrid verhängte schon vor einigen Tagen in den betroffenen Gewässern ein Segelverbot für Boote und Schiffe mit einer Länge von weniger als 15 Metern. Nach neuen Attacken wurde die Verbotszone ausgeweitet. Diese Maßnahme diene "dem Schutz der Menschen und auch der Orcas", hieß es dazu am Donnerstag. Tierschützer und Behörden befürchten nämlich, dass es zu Gegenangriffen von Bootscrews kommt.

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Die Forscher stehen vor einem Rätsel angesichts dieses untypischen Verhaltens.
Das untypische Verhalten gibt Wissenschaftlern derweil Rätsel auf. Sie alle betonen, dass die Orcas gesellige Tiere seien, die wahrscheinlich "nur spielen" wollten. Wieso es aber plötzlich zu so vielen Zwischenfällen kommt, bei denen Schiffe und Boote so hart gerammt werden, bis sie oft das Ruder verlieren und nicht mehr manövrierfähig sind - dafür haben die Experten keine Erklärung.

Der spanische Seerettungsdienst und das Rote Kreuz mussten mehrfach ausrücken, um die Opfer zurück an Land zu schleppen. Die Beautiful Dreamer etwa, die von Teneriffa nach Southampton unterwegs war. "Wir wurden mindestens 15 Mal gerammt, unser Boot hat sich mehrfach gedreht", erzählte Kapitän Justin Crowther spanischen Medien.

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Auch Meeresbiologen können sich das Verhalten nicht erklären. Anscheinend gab es zuvor noch nie Fälle, in denen ein Orca Menschen im Wasser oder auf Booten angegriffen hat. Derweil könnte vielleicht ein "Rachefeldzug" das Mysterium erklären.
"Rachefeldzug" der Orcas?

"Die einzige klare Antwort, die wir geben können, ist, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was da gerade vor sich geht", räumte Juan Antonio Romero von der Stiftung Fundación Oceanográfic im Interview des Online-Wissenschaftsmagazins Hipertextual unumwunden ein. Der Meeresbiologe, der Orcas studiert und mit diesen mehrfach unbehelligt getaucht ist, meint, es habe praktisch nie Angriffe von Orcas auf Menschen gegeben. "Weder im noch außerhalb des Wassers".

Auch Fachfrau Elvira García vom spanischen Ministerium für den Ökologischen Übergang sprach dieser Tage von "sehr ungewöhnlichen" Zwischenfällen. Die Internationale Walfangkommission habe Madrid auf Anfrage bestätigt, dass es keine Informationen über ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit gebe. Spaniens Regierung kündigte Ermittlungen an und schickte bereits erste Erkundungsflugzeuge los.

Inmitten der Sorgen und des Rätselratens meldete sich der Fachmann Víctor Hernández mit einer ungewöhnlichen Theorie zu Wort. Er sagte, die Orcas seien auf einer Art "Rachefeldzug". Eine von Orcabulle Pingu angeführte Gruppe von bis zu dreizehn Tieren attackiere Schiffe, weil sie Vergeltung für einen Angriff im Juli an der Straße von Gibraltar übe, bei dem zwei Weibchen unter anderem durch Harpunenschüsse verletzt worden seien. "Fischer und die Besatzung von Walbeobachtungsschiffen, die die Tiere sehr gut kennen, haben die verletzten Orcas gesehen und mir davon erzählt", sagte der Forscher, Umweltschützer und mehrfach ausgezeichnete Buchautor gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.

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