Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bestätigt: Der libysche Ex-Diktator und zahlreiche seiner Anhänger wurden exekutiert.
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Kurz vor dem ersten Todestag von Libyens Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi hat Human Rights Watch (HRW) neue Beweise dafür vorgelegt, dass der Diktator nach seiner Festnahme in seiner Heimatstadt Sirte von Rebellen ermordet wurde. Die Menschenrechtsorganisation dokumentiert in dem am Mittwoch veröffentlichten Bericht "Tod eines Diktators: Blutige Rache in Sirte" zudem ein Massaker an mindestens 66 Mitgliedern des Gaddafi-Konvois in Sirte.

Gaddafi, der in Libyen von 1969 bis 2011 herrschte, war im August vergangenen Jahres aus der Hauptstadt Tripolis vertrieben worden. Er starb am 20. Oktober 2011, nachdem Unterstützer des Nationalen Übergangsrats ihn nach einem NATO-Luftangriff in Sirte gefangen genommen hatten. Die Bilder des blutüberströmten Despoten gingen damals um die Welt. Um die genauen Todesumstände rankten sich daraufhin Spekulationen. Nach Angaben der Rebellen starb er im Kreuzfeuer zwischen Anhängern und Gegnern. Anderen Berichten zufolge wurde er Opfer eines Lynchmords. In einem damals im Internet veröffentlichten Video sagte ein Anhänger der Aufständischen, er habe Gaddafi in den Kopf geschossen. Gaddafi wurde an einem unbekannten Ort in der Wüste südlich der Stadt Misrata bestattet.

Folter und Massenhinrichtungen

"Die Ergebnisse unserer Untersuchung werfen Fragen zu der Darstellung der Behörden auf, wonach Muammar al-Gaddafi in einem Schusswechsel und nicht nach seiner Festnahme getötet wurde", erklärte Peter Bouckaert von HRW in einem Video-Bericht (Warnhinweis: Der Film beinhaltet Aufnahmen von Leichen und Misshandlung). Die Organisation wirft den Aufständischen vor, zahlreiche Anhänger Gaddafis entwaffnet, geschlagen und schließlich nahe des Hotels Mahari erschossen zu haben. Einige hätten die Hände hinter dem Rücken gefesselt gehabt.

Ein AFP-Reporter hatte im Oktober ebenfalls Beweise gefunden, dass auf dem Gelände des Hotels 65 bis 70 Menschen teils mit Kopfschüssen getötet worden waren. HRW beruft sich in dem Bericht auf Aussagen von Rebellen und Überlebenden des Massakers sowie auf Aufnahmen von Handykameras. Zudem glichen sie Fotos aus Leichenschauhäusern mit Videoaufnahmen von gefangenen Anhängern Gaddafis ab. Diese zeigen, dass mindestens 17 Gefangene später getötet wurden.

HRW fand außerdem Aufnahmen, auf denen Gaddafi nach seiner Gefangennahme zunächst lebend mit einer blutenden Wunde am Kopf zu sehen ist. Zudem schien er durch ein Bajonett am Gesäß verletzt worden zu sein. Als er später halb nackt in einen Krankenwagen gebracht wurde, erschien er dagegen leblos. Zu seinem Sohn Mutassim fand HRW Aufnahmen, auf denen er nach seiner Festnahme rauchend in einem Streit mit Rebellen in Misrata zu sehen ist. Wenige Stunden später sei jedoch seine Leiche mit einer neuen Wunde am Hals gefunden worden.

Unabhängige Untersuchung gefordert

Nach Angaben von HRW wurden die Beweise kurz nach den Morden an die Behörden übergeben mit der Forderung, eine vollständige und unabhängige Untersuchung einzuleiten. Bei den Verbrechen handle es sich um Kriegsverbrechen, betonte HRW. Anlässlich des Jahrestags mahnte Bouckaert erneut eine Untersuchung an. "Diese Massenhinrichtungen vom 20. Oktober 2011 sind die schwersten Verbrechen der Oppositionskräfte" in dem achtmonatigen Konflikt, erklärte Bouckaert.

Rebellen widersetzen sich weiter ihrer Entwaffnung

Schon während des Konflikts in Libyen dämmerte es manchem, dass viele der Rebellen in Brutalität und Skrupellosigkeit den Truppen von Machthaber Muammar al-Gaddafi nur wenig nachstanden. Ein Jahr nach dessen Tötung wird nun offensichtlich, dass es sich bei den Aufständischen keineswegs allein um die Freiheitskämpfer handelte, als die sie zunächst gefeiert wurden. Vielmehr gelten die Milizen als größte Bedrohung der Stabilität des jungen Staats, und viele der Brigaden halten sich aufgrund ihrer Verdienste an der Front für legitimiert, sich den Anweisungen der demokratisch gewählten Institutionen zu widersetzen.

"Wir haben unsere Leben für Gott und die Nation riskiert, daher muss die neue Regierung sich des Bluts unserer revolutionären Märtyrer würdig erweisen", sagt der frühere Rebellenkämpfer Osama al-Dali. "Wenn dies nicht geschieht, werden wir eine neue Revolution machen, um den Kurs zu korrigieren, unsere Forderungen durchzusetzen und die Staatsinstitutionen zu säubern."

"Die aktuelle Krise ist ein Problem des Vertrauens, da Überbleibsel des früheren Regimes noch immer Teil der staatlichen Sicherheitsorgane sind", sagt Benghazis Sicherheitschef Ibrahim al-Burghati. Viele der Rebellenbrigaden sind zwar inzwischen in neue Polizei- und Militäreinheiten wie etwa Libyscher Schutzschild aufgegangen, doch agieren sie vielfach auf eigene Rechnung und lassen sich aus Tripolis wenig sagen. Zudem bleibt ihr Verhältnis zu den bestehenden Sicherheitskräften schwierig.

Überfüllte Gefängnisse

Unter den Milizen sind auch viele Islamisten, die einst in Afghanistan und dem Irak kämpften. Während des Aufstands aus den Gefängnissen befreit, werden sie heute für eine Welle von Mordanschlägen verantwortlich gemacht. Ein weiteres Problem sind die Gefängnisse. Zwar übernahm die Regierung inzwischen die Kontrolle über viele Haftanstalten, doch befinden sich noch immer tausende Häftlinge in der Hand der Milizen. Menschenrechtsgruppen haben zahlreiche Fälle von Folter und Mord dokumentiert, zudem kritisieren sie, dass früheren Regierungsmitgliedern in Haft ihre Rechte vorenthalten werden. Den neuen Behörden fehlen offenkundig die Kraft und der Wille, diese Vergehen zu beenden oder zu verfolgen.

APA/Kurier/tan