Auch 23 Jahre nach ihrer Entdeckung hält die Gletschermumie Ötzi weitere Erkenntnisse bereit. So könnten Magenbakterien die Evolution moderner Zivilisationskrankheiten erklären.
Ötzi
© Foto: Ochsenreitner (Südtiroler Archäologiemuseum)Ob Karies, Darmgeschwüre oder nun Bakterien im Magen: Ötzi, hier rekonstruiert, ist ein Schatz der Wissenschaft.
Er sass oben am Hauslabjoch an diesem Frühlingstag Anfang Mai und stopfte sich so richtig voll, mit getrocknetem Steinbockfleisch und ein paar fettigen Fleischstreifen von einem Hirsch. Den frischen Wind vom Joch her hielt eine Querrinne im Felsen ab. Auch sonst war der 45-jährige Mann gut geschützt gegen die noch immer kühle Luft. Die Bärenfellmütze hatte er über die braunen Haare gezogen, den Fellmantel fest ­geschlossen. Zudem trug er Schaffell-Leggings, ausgepolsterte Schuhe und einen Lendenschurz.

Man ahnt es vielleicht schon, gleich saust von hinten der Pfeil mit der Feuersteinspitze heran, durchschlägt das Schulterblatt, zerfetzt eine Arterie und bleibt in der Brust stecken. Ötzi fällt nach vorn und schlägt hart mit der Stirn auf dem blanken Felsen auf, wo er liegen bleibt und schnell verblutet.

Vor ein paar Jahren noch hätte man dieses mittlerweile wissenschaftlich ­abgesicherte Szenario nicht so detailliert nacherzählen können. Das üppige Mahl etwa ist erst aufgrund neuester Analysen gesichert. Zunächst war der pralle Magen auf den Aufnahmen des Computertomografen (CT) gänzlich übersehen worden, war er doch durch einen Steinbrocken, auf den der verblutende Ötzi fiel, ein Stück nach unten in eine anatomisch ungewöhnliche Lage gedrückt worden. «Den Magen haben wir erst kürzlich entdeckt», sagt der ­Mumienexperte Albert Zink, der Ötzi seit fast elf Jahren untersucht. «Der Inhalt, mindestens ein Kilogramm, war unverdaut. Darunter war extrem viel tierisches Fett. Das Fleisch war vermutlich getrocknet, nicht gekocht oder gegrillt.» Dazu ass er wohl ein einfaches Brot, gemacht aus Emmer, Einkorn und Gerste.

Ergiebige Forschung

Fast 23 Jahre sind seit dem Fund der Gletschermumie im September 1991 vergangen. Es ist auch eine Geschichte mit vielen Korrekturen und immer neuen Theorien. So waren die Augen anfangs blau, jetzt weiss man, sie waren braun. So wurde Ötzi zunächst von seinen Verfolgern den Berg hochgehetzt, jetzt weiss man: «Ein Mann in Todesangst schlägt sich nicht in aller Seelenruhe den Bauch voll», sagt Zink.

Unter der Leitung des Münchner ­Anthropologen ist 2007 an der Europäischen Akademie in Bozen ­(Eurac) eigens für den Iceman, wie er international heisst, das «Institut für Mumien und den Iceman» gegründet worden. Mit Ötzi als Namensgeber ist es die einzige Einrichtung weltweit, die sich ausschliesslich mit Mumien beschäftigt. Das Südtiroler Archäologiemuseum widmet sich einem einzigen Mann - Ötzi. So könnte man fast im Stakkatostil ­weitermachen mit Rekorden: Ötzi ist der älteste tätowierte Mensch (50 mittels Asche gefärbte, tiefschwarze Verzierungen finden sich am Rücken und am rechten Knie), Ötzi ist die älteste Feucht­mumie der Welt, selbst seine roten Blutkörperchen sind die ältesten erhaltenen weltweit.

Wer waren seine Mörder?

So oft und so detailliert ist wohl kaum ein Mensch jemals durchleuchtet worden, vielleicht können so prominente Tote wie Tutanchamun gerade noch mithalten. Im vergangenen Sommer erst wurde Ötzi nach 1991 und 2005 zum dritten Mal mit einem neuen Hoch­leistungs-CT in Bozen untersucht, für den Transport war eigens ein Koffer, passend zu Ötzis Körperkonturen, angefertigt worden.

Derzeit arbeiten Computerspezialisten von Siemens in den USA an einer neuen Auswertungssoftware. «Wir wollen die grossen Fragen möglichst ­exakt aufklären», sagt Zink. «Beim Mordmotiv stossen wir an unsere Grenzen, wir ­wissen nicht, ob es ein oder mehrere Mörder waren. Ich würde die Gegend um den Fundort gern archäologisch grossräumiger untersuchen.» Im grossen Eisfeld hinter der Fundstelle könnten sich durchaus noch weitere Spuren wie Pfeile verbergen. Möglicherweise gibt es auch noch weitere Opfer. Oder zumindest Hinweise darauf, ob Ötzis Mörder allein war oder der Iceman von einer Gruppe verfolgt worden war. Zink war schon oft oben an der Todesstelle. «Ich muss nur selten hochklettern, meist nehmen mich Fernsehteams im Helikopter mit», erzählt er lachend.

Spätestens seit der Entschlüsselung seines Genoms im Jahr 2011 geht der Blick nach innen. Damals haben die Forscher um Zink eine Probe aus dem Beckenknochen des Iceman genommen und seitdem nicht nur genetische Veranlagungen wie ein erhöhtes ­Risiko für ­Arteriosklerose festgestellt. «In der Probe sind auch Daten von Bakterien und Krankheitserregern enthalten», sagt Zink. Ein riesiger Wust an Daten sei das. Neben Hinweisen auf die Borreliose konnten die Genetiker soeben ein Bakterium identifizieren, das Zahnfleischentzündungen verursacht und oft an Zahnablagerungen beteiligt ist. «Möglicherweise spielt das Bakterium auch bei der Entstehung von Gefässverkalkungen eine Rolle, also bei Arteriosklerose», sagt Zink. Genau daran litt Ötzi. Es ist ein erster Beleg, wie eine starke genetische Veranlagung in Kombination mit einem Erreger tatsächlich schon vor 5300 Jahren zu konkreten Krankheitssymptomen führte. Zudem hatte Ötzi Karies und weitere krankhafte Veränderungen der Zähne, wie die Studien des Zürcher ­Pathologen Frank Rühli belegen.

Nächstes Zielobjekt ist die Feinanalyse des Mageninhalts. Hier erhoffen sich die Forscher erste Hinweise auf das Bakterium Helicobacter pylori, das vorwiegend im Magen auftaucht. Dieser Keim ist für eine Vielzahl von Magen-Darm-Erkrankungen verantwortlich, von Magenschleimhautentzündungen über Magenkrebs bis hin zu Zwölffingerdarmgeschwüren. Heute ist es einer der häufigsten krankmachenden Keime. «Wenn wir hier eine Evolution der Erreger rekonstruieren könnten, wäre das grossartig», sagt Zink. Man könnte dann untersuchen, ob der Helicobacter schon vor 5300 Jahren ein krankmachender Keim war oder eher noch in einem symbiotischen Verhältnis mit dem Menschen lebte und bei der Verdauung half.

Ötzis begehrte Bakterien

Möglicherweise haben sich solche Keime nämlich erst im Lauf der Menschheits­geschichte zu pathogenen Erregern entwickelt, weil die Menschen ihre Ernährung umgestellt haben. Ötzi ist hier für die Forschung ein Idealfall, denn er erlaubt auch einen mikrobiologischen Blickwinkel in die Vergangenheit. Vermutlich hat sich der Helicobacter mit dem Menschen über die Erde ausgebreitet. «Bei molekularbiologischen Dingen können wir stark ins Detail gehen und Fragen untersuchen, die auch für uns Menschen heute sehr relevant sind. Wir können zur Entstehungsgeschichte von Krankheiten einen wichtigen Beitrag leisten», sagt Zink.

Mitte 40 und gut trainiert

Fasst man die bekannten Krankheits­details von Ötzi zusammen, von Arteriosklerose über Gallensteine, Bandscheibenverschleiss bis hin zu Karies, Borreliose und Laktoseintoleranz, kann einen Mitleid ergreifen. «Wenn man viel untersucht, findet man auch viel», sagt hingegen Zink. «Ich empfinde ihn nicht als krank.» Das Bild habe sich im Lauf der Jahre sogar zum Positiven gewendet. ­Anfangs dachten alle, dass er sich geschwächt und krank in die Berge verirrte und dort starb. «Ötzi war fit, trotz seiner Wehwehchen, die für die Zeit damals vermutlich normal waren», sagt Zink. Die Arteriosklerose habe Ötzi vermutlich gar nicht gemerkt. «Er war Mitte 40 und sehr gut trainiert, das sieht man an den Muskeln. Er hätte sicher auch 70 Jahre alt werden können, dann wäre nur das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall gestiegen.»

In all den Jahren sei er der Mumie nähergekommen, erzählt Zink. «Es war ein Mensch, der früher mal gelebt hat. Klar gibt es ein grosses wissenschaftliches ­Interesse, aber manchmal tut er mir fast leid, wenn man wieder ein Stück für eine Untersuchung entfernen muss aus dem Toten. Da macht man sich schon Gedanken, was das für ein Mensch war.» Ein Mensch, dessen Lebensumstände und Ernährungsgewohnheiten ein spannendes und detailreiches Bild des späten 4. Jahrtausends vor Christus liefern.