Angela Merkel brachte gestern bei einem Auftritt vor Schülern einer Rostocker Integrationsschule die junge Palästinenserin Reem Sahwil, die über den Libanon nach Deutschland geflüchtet ist, zum Weinen und sorgte damit für ein PR-Desaster. Nun üben sich die Spindoktoren in Kanzlerinnen-Klitterung. Angeblich stelle die ungekürzte Version des Videos die Situation ganz anders dar. Auch sei die Kanzlerin lediglich ehrlich gewesen. Doch ist das wirklich so?


Merkel Flüchtlinge
Der kurze Videoclip, in dem Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer groß angelegten PR-Kampagne „Bürgerdialog“ in kalter und hölzerner Manier die Hoffnungen der jungen Reem Sahwil zerstörte und anschließend versuchte, deren Tränen „wegzustreicheln“, erwischte die Schönredner von Merkels Kanzlerschaft unvorbereitet. Während die PR-Schreiber der Teflon-Kanzlerin gewohnt sind, dass alle Skandale an Merkel abgleiten, lässt sich nach ihrem Auftritt vor Schülern der Paul-Friedrich-Scheel-Schule in Rostock wenig richten. Denn letztendlich sind es auch keine politischen Argumente, mit denen hier irgend etwas gerade zu biegen ist, die große Empörung setzt vielmehr auf der emotionalen Ebene an.

Als kalt, herzlos und unempathisch wird Merkels Antwort auf Reem Sahwil hoffnungsvolle Frage gewertet, in der die junge Schülerin wissen will, warum sie nicht frei von Abschiebungsängsten leben kann. Seit vier Jahren lebt Reem Sahwil nun schon in Deutschland, spricht fließend Deutsch und Englisch, besucht eine integrative Schule, in der geistig und körperlich behinderte Kinder gemeinsam mit nicht Behinderten unterrichtet werden, und wird von einem Mitschüler als „das Gehirn der Klasse“ bezeichnet. Jedoch hat sie die ganze Zeit Angst, von deutschen Behörden aus ihrem neuen Lebensumfeld, in das sie bestens integriert ist, herausgerissen und in ein ihr fremdes Land abgeschoben zu werden. Der Grund dafür: Die bundesdeutsche und von Merkel zu verantwortende Asylpolitik.

Der Ausschnitt-Trick

Wie soll man das noch schön reden? Die Bundesregierung versucht es auf Facebook mit einem simplen Trick: Das werde alles falsch interpretiert. Die ungekürzte Variante des Dialogs, stelle die Situation ganz anders da. Und in der Tat wurden noch weitere Worte gewechselt. Merkel versucht argumentativ zu untermauern, was nun mal so ist und letztendlich alternativlos sei. Am Ende bleibt jedoch die Botschaft: „Tut mir leid, du bist zwar sympathisch, aber im Grunde kann ich wenig für dich tun. Außer einmal streicheln.“

Reem Sahwil überzeugte dies jedoch nicht. Nach dem emotionalen Moment - die Kanzlerin ist schon lange wieder mit ihrer Auto-Kolonne abgefahren - zeigt sich die junge Schülerin enttäuscht. „Nein, es war mir nicht genug“, entgegnet sie nach der Veranstaltung auf die Frage ob sie mit Merkels Antwort zufrieden war. Und:
„Ich hätte gern noch mehr gesagt. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich was bewirkt habe.“
Im ARD-Morgenmagazin zeigt sich Reem ebenfalls weiter im Dissens mit Merkel, was die FAZ heute nicht daran hindert zu behaupten „Flüchtlingsmädchen nimmt Kanzlerin in Schutz“. Bewirkt hat die Schülerin allerdings eine Menge. Das Netz kocht unter dem Hashtag #merkelstreichelt über, seitdem sich das Video des Auftritts viral verbreitet und zum jetzigen Zeitpunkt auf nur einem der Kanäle bereits über eine Millionen Mal angeschaut wurde. Rechnet man die zahlreichen Spiegelungen des Videos mit ein, die sich ebenfalls weiter stark verbreiten, kann davon ausgegangen werden, dass ganz Deutschland mittlerweile die Szene kennt.

Der Libanon-Trick

Ein weiterer Spin, den Merkels PR-Abteilung daher nun versucht zu verbreiten, ist die Aussage, Reem sei eine „libanesischen Schülerin“. Im Gespräch mit Merkel hatte die junge Palästinenserin erwähnt, dass sie bei einer Zwischenstation ihrer Flucht einen libanesischen Pass erhalten hatte. Doch macht dies Reem zur Libanesin oder versucht die Bundesregierung eher die Argumentation zu unterfüttern, im Libanon herrsche schließlich kein Bürgerkrieg, weswegen Reem eigentlich keinen Grund hat in Deutschland zu leben?

Dass eine Flucht vor Krieg und Vertreibung keine Spaßreise ist, bei der einfach das nächste Flugzeug bestiegen wird, sollte allerdings jedem klar sein. Zwischenstationen, bei denen es immer wieder aufs Neue bürokratische Hürden zu überwinden gilt, sind ein stressiger Bestandteil einer solchen Flucht. Zu behaupten, Reem hätte kein Aufenthaltsrecht in Deutschland, weil sie davor Halt im Libanon gemacht hatte, wäre gleichbedeutend mit der Aussage, Deutschland müsse Flüchtlingen aus Kriegsgebieten kein Asyl gewähren.

Der Merkel-war-ehrlich-Trick

Bei den medialen Hofberichterstattern in einigen großen Zeitungen heißt es nun auch, Merkel sei eben ehrlich gewesen. Ihr seien in Einzelfällen nun mal die Hände gebunden und dies hat sie dem Mädchen gesagt, ohne ihr falsche Hoffnungen zu machen.

Doch zur Ehrlichkeit gehört auch ein anderer Teil der Geschichte: Warum musste Reem überhaupt flüchten? Trägt vielleicht auch die Haltung der Bundesregierung im Nahost-Konflikt dazu bei, dass Israel immer wieder mit Gewaltexzessen seine Besatzung des palästinensischen Territoriums aufrechterhalten kann?


Wirkt nicht gerade Merkels „Staatsräson“ der substantiellen Kritiklosigkeit an zahllosen Kriegsverbrechen der Israelis wie ein Freifahrtschein für Jerusalem, Kinder wie Reem aus ihrem Zuhause zu bomben? Ehrlich wäre, die Kanzlerin würde sich in einem ihrer „Bürgerdialoge“ einmal auf solche Fragen einlassen. Wahrscheinlich soll aber genau das mit dem „Libanon-Trick“ der Bundesregierung vermieden werden.


Merkel wurde in Rostock mit den Folgen ihrer eigenen Politik konfrontiert. An dieser Tatsache ändert sich auch in der ungekürzten Version des Gespräches nichts, und es ist alles andere als ehrlich, die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu ignorieren.

So überzeugen auch die Spins der Bundesregierung und die ihr wohlgesonnenen Meinungsmacher nicht. Der Moment, in dem die sonst perfekt abgestimmte Merkel-PR-Maschine einmal versagte, wird sich nicht umdeuten lassen und als #merkelstreichelt zu Ungunsten der Kanzlerin in Erinnerung bleiben.