Brexit London
© Foto: PixabayGeht es nach dem Willen Brüssels, soll der Langzeit-Nettozahler Großbritannien noch einmal eine repräsentative Austrittsgebühr leisten.
Großbritannien soll sich, wenn es nach dem Willen der EU-Kommission und des Europäischen Rates geht, seine Unabhängigkeit teuer erkaufen müssen: Auf Grund laufender Vereinbarungen soll London im Vorfeld des Brexits etwa 60 Milliarden Euro an Brüssel bezahlen.

Ist die EU eine Art "Hotel California", aus dem man frei nach dem alten Eagles-Song zwar jederzeit auschecken, das man aber trotzdem nie verlassen kann?

Geht es nach dem Willen von Beamten in der EU-Kommission und im Europäischen Rat, soll sich Großbritannien nach dem Brexit von seiner EU-Mitgliedschaft teuer freikaufen. Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schreibt, haben die Gremien auch schon eine sehr präzise Vorstellung über den Preis für die im Juni des Vorjahres herbeigestimmte Unabhängigkeit: Etwa 60 Milliarden Euro soll das Königreich an Brüssel überweisen, um die Union verlassen zu können.

Diese Forderung beinhalte unter anderem Pensionsverpflichtungen, Beiträge für Förderprogramme, Haftungen für Gemeinschaftsschulden oder diverse Strukturfonds. Insgesamt sollen die Verpflichtungen der Briten gegenüber der EU auch im Falle eines vorzeitigen Ausstiegs bis zum Jahr 2020 aufrecht bleiben.

Dies ergebe sich aus Abkommen über Verpflichtungsermächtigungen, die zwischen der EU-Kommission und jedem Mitgliedsstaat über eine Dauer von sieben Jahren geschlossen werden. Auf diese ist der so genannte mehrjährige Finanzrahmen angelegt, der lediglich eine Obergrenze für die Gesamtsumme der EU-Ausgaben sowie die Verteilung einzelner Gelder auf wichtige Aufgabenbereiche festlegt. Im Rahmen dieser Vereinbarung sagen Mitgliedsstaaten dem Grunde nach die Freigabe von Mitteln zu, die fällig werden, sobald diese tatsächlich abgerufen werden.

Süd- und Osteuropäer wollen keine Abstriche bei Strukturfonds

Bezüglich der Verbindlichkeiten, die im Rahmen dieser Vereinbarung auflaufen, haften die Mitgliedsstaaten gemäß dem Anteil ihrer jeweiligen Volkswirtschaft an der Gesamtleistung der Union. Bei den Briten wären das eigentlich 15 Prozent, allerdings hatte Ex-Premierministerin Margaret Thatcher einst den so genannten Britenrabatt ausgehandelt, der zur Folge hat, dass Großbritannien nur im Umfang von 12 Prozent einstehen müsste.

Mit Blick auf die Gesamthöhe der Verbindlichkeiten von 241 Milliarden Euro, die voraussichtlich bis Ende 2018 im Zusammenhang mit dem mehrjährigen Finanzrahmen auflaufen werden, wären alleine das etwa 29 Milliarden an Haftungssumme, die Großbritannien beisteuern müsste. Ohne Rabatt wären es sogar 36 Milliarden.

Dazu kommen nach den Berechnungen aus Brüssel noch Mittel für die so genannten Strukturfonds. Dort geht es unter anderem um Maßnahmen für die Infrastruktur oder um Arbeitsmarktförderung. Zumindest 17 Milliarden - ohne Rabatt wäre die Rede von 22 Milliarden - beträgt der britische Anteil an den Fonds. Vor allem die süd- und osteuropäischen Staaten, die auf die Mittel aus den Strukturfonds angewiesen sind, werden nicht gewillt sein, bei den Brexit-Verhandlungen in diesen Bereichen weitreichende Kompromisse zu Gunsten der Briten einzugehen.

Zwischen acht und zehn Milliarden könnte Brüssel zudem noch für die Versorgung von EU-Beamten verlangen, die üppige Rentenansprüche erworben haben und deren Altersversorgung aus dem regulären Haushalt bestritten wird. Derzeit beträgt die Zahl der Empfänger von EU-Renten 22.000, diese Zahl könnte sich bis Mitte des Jahrhunderts verdoppeln.

Die EU besteht in diesem Zusammenhang darauf, dass alle Beamte, die Rentenansprüche erwerben, gleichbehandelt werden, und London deshalb auch seinen Anteil an der Versorgung aller Beamter leisten müsse. Die Briten sind jedoch allenfalls bereit, die Versorgung britischer EU-Beamter zu übernehmen.

Boris Johnson: "Notfalls gehen wir auch ohne Deal"

Ein weiteres Restrisiko für Großbritannien ergibt sich aus laufenden Krediten und Bürgschaften für Mitgliedsstaaten, die sich in einer wirtschaftlichen Krise befinden. Die Haftungssumme aus den entsprechenden Programmen liegt bei fast zehn Milliarden Euro.

In Großbritannien schütteln Regierungspolitiker und europakritische Medien den Kopf über die Rechnung der Brüsseler Beamten. Einige Posten seien von vornherein in die Austrittsentscheidung eingepreist gewesen, andere würden die Briten nicht mehr betreffen und darüber hinaus habe London seinerseits noch Ansprüche an die EU aus Strukturfonds und auf Grund britischer Anteile am Gesamtvermögen der Union.

Großbritanniens Außenminister Boris Johnson fände es sogar angemessen, notfalls auch ohne einen Deal zu gehen. Selbst wenn es der EU gelingen sollte, vor internationalen Gerichten Ansprüche gegen London zu erwirken, erscheint es als fraglich, inwieweit sie diese faktisch durchsetzen könnte.

Darüber hinaus wird London auch Fragen wie die künftige Rechtsstellung in Großbritannien lebender EU-Bürger oder die wechselseitigen Interessen bezüglich des bilateralen Freihandels und des Binnenmarktes in die Waagschale werfen. Bis dato ist noch nicht einmal geklärt, ob - wie die Briten es verlangen - erst die Ersatzabkommen rund um die künftigen Wirtschaftsbeziehungen ausgehandelt werden oder - wie Brüssel das vorschwebt - erst der Austritt vollzogen wird.

Beide Seiten kalkulieren mittlerweile längst die Worst-Case- und Krisenszenarien im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen durch. Die EU-Kommission hat, so schreibt die FAS, ihre Generaldirektionen aufgefordert, die Folgen eines ungeregelten Brexits für alle Politikfelder durchzuspielen. Auch London dürfte auf eine solche Entwicklung vorbereitet sein.