Gender Mainstreaming
Dem aufmerksamen Leser deutscher Medien mag es entgangen sein, es wurde ja kaum darüber berichtet, aber Ende 2016 wurde in Kanada ein Gesetz verabschiedet, das es unter Strafe stellt, Menschen mit dem von ihnen als falsch empfundenen Pronomen - sprich nicht gendergerecht - anzureden.
Das Gesetz zielt darauf ab, Individuen vor Diskriminierung im Bereich der Bundesgerichtsbarkeit zu schützen und sie davor zu bewahren, wegen ihrer Gender-Identität oder dessen Ausdrucks Opfer von Hasspropaganda zu werden. Das Gesetzt fügt "Gender-Identität oder -Ausdruck" zu der Liste der verbotenen Diskriminierungsgründe in den kanadischen Menschenrechtsgesetzen und auch zu der Sammlung von Charakteristika für die identifizierbaren Gruppen, die im Strafgesetzbuch vor Hasspropaganda geschützt werden. Es legt zudem fest, dass es vor Gericht als erschwerender Umstand bei der Urteilsfindung gilt, wenn der Erweis erbracht wird, dass ein Delikt durch Voreingenommenheit, Vorurteil oder aus Hass gegen die Gender-Identität einer Person motiviert wurde.
Nach der ersten kurzen Freudeswelle, dass wir also anscheinend in der offenen Gesellschaft angekommen sind, sollten sich Zweifel regen (wir berichteten). Vorbei sind die Zeiten, in denen Männlein im Anzug und Weiblein in Rock und Kleid als ebensolche einfach auszumachen waren. Vorbei sind aber nun auch die Zeiten, in denen sich über modische Missverständnisse und eine falsche Interpretation von Äußerlichkeiten eigentlich reden und im Zweifel streiten lassen kann.

Nein, in Kanada ist der unbedarfte Sprecher nun bei sprachlichen Patzern dem Wohlwollen seines Gegenübers ausgesetzt. Im schlimmsten Fall ist das falsch benutzte Pronomen Ausdruck von, Zitat: "Hate Speech" ["Hasssprache" ], Vorurteilen oder Voreingenommenheit. Ja, Voreingenommenheit. Ist die zu schnelle Zuordnung eines Gender-Pronomens aufgrund von Äußerlichkeiten doch nichts anderes als das Ergebnis einer unterdrückenden, patriarchalen Gesellschaft, die uns in die Zwangs-Heteronormativität, sprich die unhinterfragte bipolare Geschlechterordnung getrieben hat. Klingt furchtbar? Diese sprachlichen Kampfrufe sind nichts Neues: Gender Studies, die Geschlechterforschung, bereichert sich deutsche Universitäten seit den 1980er Jahren. Und was wir heute wie im Wirbelwind erleben, ist ein Prozess, der sich angekündigt hat.

Der Kampf um die Identität: Biologie vs. soziale Konstruktion

Das zeigt sich auch daran, wie viele dienbare Informationen das Internet schon auf kurze Recherchen hin von offiziellen (sprich vertrauenserweckenden) Institutionen ausspuckt. Denn Gender Mainstreaming ist nichts, was sich greifbar und überzeugend mal eben so erklären ließe. Schon 2012 liest man in Politik und Zeitgeschichte, herausgeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, in einem Beitrag der Pädagogin Prof. Dr. Jutta Hartmann über das Schlachtfeld "Heteronormativität und Schule":
Identität als dynamisch zu begreifen, fordert bezogen auf die Kategorie Sexualität heraus, die Prozesshaftigkeit sexueller Identität auch mit Blick auf das zu sehen, was gemeinhin als gegebene sexuelle Orientierung gilt. Hetero-, Homo- oder Bisexualität sind Menschen nicht wesenhaft, sondern werden von diesen in komplexen Prozessen sexueller Bildung - mit Butler gesprochen über "Improvisationen im Rahmen des Zwangs" - hervorgebracht. Ein solches Identitätsverständnis fordert Pädagogik heraus, dem Perspektivenwechsel zu folgen: weg von einer identitätszentrierten Orientierung an Identitätssuche und -stärkung hin zu einer Auseinandersetzung mit dem konstruierten Charakter von Identitäten und zu einer Ausarbeitung und Gestaltung der eigenen Identität, die bisherige Grenzen befragt, ausdehnt oder auch überschreitet.
Und damit sind wir auch direkt bei einer Kernmaxime der modernen Gendernauten, nämlich der, dass das Geschlecht eine soziale Konstruktion und somit wandelbar und wählbar und nicht biologisch determiniert sei. Zu verdanken ist diese allgegenwärtige Gender-Weisheit der amerikanischen Berkeley-Professorin Judith Butler, die 1990 ihr Buch Gender Trouble herausbrachte:
Der englischsprachige Titel Gender Trouble, unter dem das Buch auch im deutschen Sprachraum bekannt ist, verweist präziser auf den Kern von Butlers Auseinandersetzungen: Die Probleme, die sich aus der Zuschreibung und Reproduktion von Geschlechterverhältnissen ergeben. Der aus dem Englischen ins Deutsche übernommene Begriff gender lässt sich etwas unpräzise als die soziale oder psychologische Seite des Geschlechts einer Person übersetzen. Er bezeichnet somit in der feministischen Theorie eine Kategorie, die im Unterschied zum biologischen Geschlecht (im Englischen sex) steht. Die Grundannahme ist in der Regel, Gender sei eine Geschlechtsidentität, die mit dem biologischen Geschlecht nicht ursächlich in Verbindung steht. Ausgehend von Simone de Beauvoirs Werk Das andere Geschlecht und der darin enthaltenen zentralen Aussage "Man wird nicht als Frau geboren, man wird es." führt Butler aus, dass auch das "Körpergeschlecht" ("sex") diskursiv erzeugt ist. Die Einteilung der Menschen in die Kategorien männlich und weiblich wäre demnach ein diskursives Konstrukt, das eine angebliche, natürlich-biologische Tatsache zum Vorwand nimmt, Herrschaft und Macht auszuüben.
Quo vadis, freie akademische Debatte?

Wie sehr sich die Fronten zwischen progressiven Genderexperten und (zu Recht) kritischen Hinterfragern verhärtet haben, zeigt sich am Beispiel des kanadischen Psychologieprofessors Jordan B. Peterson, der sich weigerte, dem Druck der Gender-Aktivisten nachzugeben:
Öffentliche Aufmerksamkeit erlangte Peterson seit 2016 als Kritiker des im Juni 2017 verabschiedeten kanadischen Gesetzes "Bill C-16". Bezüglich nicht-binärer Geschlechter, die nicht exklusiv maskulin oder feminin sind (Intersexualität), steht Peterson auf dem Standpunkt, es gäbe nicht ausreichend Belege dafür, dass Geschlechtsidentität und biologische Sexualität voneinander unabhängige unterschiedliche Konstrukte wären. Eine Verwendung von durch Betroffene gewünschte spezifische Pronomen in der dritten Person lehnt er ab, nennt diese "Konstrukte einer kleinen Koterie ideologisch motivierter Menschen". Er beruft sich dabei auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung: "Ich werde keine Worte von Ideologen aussprechen, denn wer das macht, wird zur Marionette ihrer Ideologie."

Peterson kritisierte, durch die Änderungen am Menschenrechtsgesetz würden sich Arbeitgeber und Organisationen künftig strafbar machen, wenn ein Mitarbeiter oder Gesellschafter etwas sage, das direkt oder indirekt, "ob absichtlich oder unabsichtlich", als beleidigend ausgelegt werden könnte.
Der Psychologe, der selbst lange Jahre Vorlesungen zum Thema Nationalsozialismus gehalten hat, musste in der Folge Hitlervergleiche, den Vorwurf der Transphobie und eine beachtliche Portion Hysterie über sich ergehen lassen. Das Maß an Hysterie, mit der hier unliebsame Meinungen wie die von Prof. Peterson übertönt werden, ist erschreckend. Siehe dieses Video:

Gerade aus einer deutschen Perspektive regt sich tiefes Unbehagen, wenn Universitäten zu Orten des erzwungenen Konsenses statt der lebhaften Debatte werden. Lernen heißt auch aushalten, dass es Unterschiede gibt. In Menschen und Meinungen. Und wenn wir eingangs noch kurz in Richtung des Wunschbildes einer von Verständnis, Respekt und Lernen geprägten, offenen Gesellschaft geschaut haben, müssen wir heute beobachten, was passiert, wenn sich Agenden verselbständigen.

Die kanadische Studentin Lindsay Sheperd zeigte in einem von ihr geleiteten Tutorium an der Laurier Universität einen Ausschnitt einer Fernseh-Debatte, in der Jordan B. Peterson seine kritische Haltung zum (zwangsverordneten) Gebrauch von konstruierten Gender-Pronomen benennt. Daraufhin beklagten sich einer oder mehrere Studenten anonym über sie und das verwendete Video, mit der Begründung, Jordan B. Peterson sei transphob, schüre Aggressionen und damit hätte die Tutorin ein unsicheres Lernumfeld geschaffen.

Lindsay, die in keiner Weise Unterstützerin von Jordan B. Peterson ist und viele seiner Positionen kritisch sieht, wurde dann zu einem Gespräch mit drei Universitätsvertretern gebeten, das sich nicht anders als in der Tradition maoistischer Selbstkritik sehen lässt. Aus einem vermeintlich harmlosen Videoschnipsel, der zum Diskutieren animieren sollte, wurde so eine Debatte um die freie Rede auf den Campussen heutiger Universitäten.
Ich erklärte meinen Studenten, dass Debatten wie die, die wir uns ansehen würden, eine gute Methode sind, Kommunikationsblasen zu durchbrechen und für sich selbst zu entscheiden, ob ein Argument Gewicht hat oder nicht. Ich habe betont, dass es eben diese Beobachtung von Ideen-Debatten ist, die einen "Marktplatz der Ideen" formt (ein Konzept, das ironischerweise in ebendem Kurs, in dem ich zensiert wurde, studiert werden sollte).
Und so zeigt uns das doch eigentlich so entspannte, sympathische Kanada, wie er aussieht: der Tod der abweichenden Meinung unter dem Deckmantel des befreienden Gender Mainstreamings. Aber was kann ich als zwangsnormative Hete dazu schon sagen, nicht wahr? Der nachdenkliche Kopf hat heutzutage keine Chance gegen Betroffenheit und aggressives Opfertum. Die Moralkeule wiegt so schwer, die kann halt nicht jeder heben.

Die Kleinsten im Visier: Sexuelle Vielfalt in der Schule

Aber geschwungen wird sie fleißig. Auch hierzulande. Oder dachte da etwa jemand, Kanada sei weit weg? Kanada ist überall, zum Beispiel gleich um die Ecke in der Grundschule. In vielen Bundesländern wird hier längst auf gender-sensible Lehrplangestaltung gesetzt. Und diese scheint dabei ordentlich an Boden zu gewinnen. Wer Bedenken äußert, dass er sein Kind in der Grundschule noch nicht allzutief in die Sexualerziehung eintauchen lassen will, vor allem, ohne dabei zu sein, ist bestenfalls verklemmt und am Ende irgendeiner Phobie verfallen. Dabei steht hinter der meisten Kritik vielleicht einfach nur der Wunsch, die lieben Kleinen möglichst lange unschuldig Kind sein zu lassen. Doch das ist nicht gewollt:
Will die Sozialisationsinstanz Schule ihrem pädagogischen und auch (geschlechter-) demokratischen Auftrag gerecht werden, so reicht es nicht aus, dass sie lediglich nicht zur Stabilisierung bestehender Geschlechterverhältnisse beiträgt; vielmehr sollte sie - bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt - aktiv zum Abbau vorhandener Geschlechtsrollenstereotype sowie zur Förderung flexibler Rollenbilder beitragen.

Da Jungen eine stärkere Rollenprägung aufweisen als Mädchen, sollte eine geschlechtergerechte Pädagogik und Schulorganisation die Situation von Jungen stärker berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen des heimlichen Lehrplans sollten Lernende und Lehrende dazu veranlasst werden, ihr eigenes Unterrichtshandeln sowie ihre Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu reflektieren. Maßnahmen zum Abbau von Stereotypen sind gerade in gemischtgeschlechtlichen Lerngruppen besonders wirksam.
Schreibt Dr. Ronald Schultz im Rahmen des Gender Mainstreaming-Anwendungsprojekts des Kultusministeriums des Landes Sachsen-Anhalt zur "Erarbeitung von Lehrplänen für die Grundschulen nach dem GM-Ansatz". Es kann doch niemand den Eltern verübeln, wenn sie ihre Kinder lieber selber zu offenen, respektvollen Menschen heranziehen wollen, statt sie zu indoktrinieren?

Es ist dieses Zwanghafte, Unnachgiebige, die moralische Überlegenheit, von denen die Debatte meist bestimmt wird. Verkniffen und immer bereit den vermeintlichen Gegner argumentativ ins moralische Abseits zu schieben (mindestens konservativ, gerne aber auch rechts oder oder...). Leider wollen sie nicht verschwinden, die Ahnungen, dass es in diesem Land schon mal ganz ähnlich zwanghaft zugegangen ist. Nur ging es um Rasse statt Gender, um Gesinnung statt sexuelle Vielfalt. Wenn eine gesellschaftliche Bewegung ihre Kritiker mundtot machen muss und die Fähigkeit zur reflektierten Debatte verliert und nur noch auf die Durchsetzung einer Agenda setzt, ohne Reibungsverluste zu bedenken, dann schafft dies eine viel größere Unsicherheit, eine viel größere Atmosphäre der Ablehnung, als sie von eben diesen Gruppen überall gewittert wird. Wer laut brüllt, hat nicht automatisch recht.