Theologe, Priester, Kardinal - und schließlich Papst: Joseph Ratzinger, der emeritierte Benedikt XVI., ist gestorben. Ein Blick auf sein Leben zeigt, dass seine Zeit als oberster Hirte im Vatikan nie das war, was er anstrebte. Am Ende überschatten Missbrauchsskandale seine Amts- und Ruhestandszeit.
Pope Benedict ratzinger
© AFP via Getty
Joseph Ratzinger ist tot. Mit ihm stirbt ein Kirchenmann, der in die Geschichte eingehen wird: als einer, der irgendwie auch Papst war, aber nicht als Papst gestorben ist. Das ist bezeichnend für sein Leben, denn es passt zu dem Wesen dieses zurückhaltenden Denkers. Joseph Ratzinger war zwar für eine kurze Spanne seines langen Lebens - knapp acht Jahre lang - Papst Benedikt XVI. Doch auch wenn man das als Höhepunkt der Karriere dieses Mannes bezeichnen könnte, so gleicht die Rolle als oberster Hirte der römisch-katholischen Kirche doch eher einem Fremdkörper in seiner Biografie.

Joseph Aloisius Ratzinger wurde am 16. April 1927 in der kleinen bayrischen Stadt Marktl am Inn als Sohn eines Polizisten und einer Köchin geboren. Schon früh zeichnete sich die Laufbahn ab, die sein Leben prägen würde: Ratzinger war, was die akademische Theologie angeht, ein Durchstarter. Im Alter von 26 Jahren wurde er, zwei Jahre nach seiner Priesterweihe, zum Doktor der Theologie promoviert. Nach einigen Diskussionen um seine Habilitationsschrift trat er seine erste Professur für Dogmatik in Freising bereits im Alter von 31 Jahren an.

Große Spuren hinterließ Joseph Ratzinger als junger Theologe beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), das in der katholischen Kirche als wegweisend für die Öffnung gegenüber der Welt und anderen Religionen gilt. Damals stand Ratzinger auf der Seite der moderaten Reformer; vor allem setzte er sich für die Abschaffung der lateinischen Messe ein.

Mehrfach bat er darum, zurücktreten zu dürfen

Nach langer Lehrtätigkeit wurde er für wenige Jahre Erzbischof im Bistum München-Freising, bevor ihn sein Vorgänger Papst Johannes Paul II. 1982 zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre ernannte. Damit hatte Ratzinger als "oberster Glaubenswächter" ein hohes Amt im Vatikan inne. Ganz deutlich wurden in dieser Zeit wesentliche Positionen, die er stark machte - und die deutlich machten, dass es Ratzinger bei allem Reformwillen auch immer um die eine katholische Wahrheit ging, um den Erhalt der kirchlichen Lehre, um die Abwendung von Häresien.

In vielerlei Hinsicht war von einem Reformer Ratzinger nun nicht mehr viel zu spüren, eher im Gegenteil: Er maßregelte nun reformfreudige Theologen, selbst Leute aus der Konzilszeit, deren Weggefährte er einst war. Was die Lehre der römisch-katholischen Kirche betrifft, war Ratzinger ein Traditionalist. Das zeigte sich zum Beispiel 2007 in seiner Entscheidung als Papst, die lateinische Messe wieder zu ermöglichen, gegen die er mehr als 50 Jahre zuvor noch argumentiert hatte.

Schon in dieser Zeit als Erzbischof wurde zunehmend auch klar, wie sehr Joseph Ratzinger unter den Aufgaben litt, die ein hohes Amt in der katholischen Weltkirche mit sich bringt. Er bat Johannes Paul II. mehrfach, ihn zu entlassen. Anstatt oberster Glaubenswächter zu sein, wollte er lieber zurück nach Bayern, um dort Bücher zu schreiben. Auch als er mit 75 Jahren erneut erwog, das in diesem Alter übliche Rücktrittsgesuch zu stellen, winkte der damalige Papst ab. Johannes Paul II. wird mit den Worten zitiert: "Sie brauchen den Brief gar nicht zu schreiben, denn ich will Sie bis zum Ende haben."

Vor diesem Hintergrund kann man vielleicht ansatzweise nachfühlen, wie Joseph Kardinal Ratzinger sich am 19. April 2005 fühlte, als er nach dem Tod des polnischen Papstes zum Bischof von Rom - und damit zum neuen Oberhaupt der katholischen Kirche - gewählt wurde. Er, der eigentlich nichts lieber wollte, als sich in sein stilles Kämmerlein zurückzuziehen, um zu denken, zu beten und zu schreiben.

Stattdessen brach in seinem Heimatland der Jubel über den neuen Papst aus. Als erster Deutscher seit Hadrian VI. im Jahr 1523 bestieg Ratzinger den Stuhl Petri. Sein Unwohlbefinden merkt man dem schmächtigen Mann jedoch schon da an. Nein: Papst wollte er nie werden. Zu stark war seine Leidenschaft für die Theologie, für die Arbeit an der Universität und die Lehre, für Lesen und Schreiben - Dinge, für die ihm als Papst schlicht die Zeit fehlte. Mehr als ohnehin schon in seiner vorherigen Aufgabe.

Überfordert mit seiner Rolle?

Papst Benedikt XVI. war ein Akademiker, ein Denker. Kein Macher, kein Lenker. Einzelne Episoden seiner Amtszeit zeichnen dieses Bild sehr deutlich. Mithin schien er einfach überrollt zu werden von der Wirkung, die seine Äußerungen und Entscheidungen als Papst nach sich zogen.

Zum einen ist da die als "Papstzitat von Regensburg" bekannt gewordene Rede, die eine Welle der Ablehnung, des Hasses und der Gewalt in der muslimischen Welt zur Folge hatte. Auslöser war ein Zitat zur Rolle der Gewalt im Islam, das Benedikt XVI. während einer Vorlesung im September 2006 vorlas. In einem Hörsaal im Rahmen einer Lehrveranstaltung, vor einem Haufen Studenten, wäre diese Rede kein Problem gewesen. Nicht aber in der Rolle als Papst, vor Kameras aus aller Welt, die die gebotene Differenziertheit seiner Aussagen eben nicht vermitteln können. Früh wurde somit in besonders harter Weise deutlich, dass der Rollenwechsel für den Theologen Ratzinger kein leichter war.

Das zeigte sich auch im Umgang mit der Pius-Bruderschaft, als Benedikt XVI. im Jahr 2009 vier Bischöfe der Bruderschaft rehabilitierte, darunter auch den Holocaust-Leugner Richard Williamson. Wellen der Empörung brachen über den Vatikan herein; allerorten wurde der katholischen Kirche durch diesen Schritt ein schwerer Rückschlag im jüdisch-christlichen Dialog bescheinigt. In der späteren Erklärung des Papstes wird deutlich: Diese öffentliche Dimension hatte er bei der Entscheidung gar nicht im Blick. Für ihn war das Ganze eine innerkirchliche Angelegenheit. Eine Sache, die theologisch geboten war. Mit der außerkirchlichen Wirksamkeit seiner Entscheidung war er schlichtweg überfordert. Einer seiner Kritiker sagte damals: "Der Papst hat bis jetzt kein Gespür beziehungsweise keinen Berater, der ihm sagt, was für politische Folgen diese oder jede Aussage hat."

Missbrauchsskandale überschatten Amtszeit - und die letzten Jahre

Dass dies auch bis ins Jahr 2022 zutraf, zeigt der Blick auf den Umgang mit einem weiteren brisanten Thema - insbesondere, als er bereits als "Papa emeritus" von der ganz großen Bühne abgetreten war. Noch in die Amtszeit von Papst Benedikt XVI. fiel die Enthüllung der Missbrauchsskandale in der Katholischen Kirche. Ab dem Jahr 2010 kam nach und nach ans Licht, dass jahrzehntelang Kinder missbraucht wurden, dass die Institution die Täter systematisch deckte und keinerlei Aufarbeitung leistete. Das Münchner Missbrauchsgutachten, das im Januar 2022 veröffentlicht wurde und erneut hunderte Fälle ans Licht brachte, belastete schließlich auch Joseph Ratzinger: Er habe sich zu seiner Zeit als Erzbischof nicht korrekt gegenüber ihm bekannten Missbrauchsfällen verhalten.

Ratzinger, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gutachtens 94 Jahre alt, äußerte sich zu den Vorwürfen. Doch auch hier trat wieder zutage, was schon mehrere Episoden gezeigt hatten: Ihm fehlte das Gespür für die Konsequenzen seiner Äußerungen. So entschuldigte er sich zwar im Februar 2022 öffentlich für "Vergehen und Fehler, die in meinen Amtszeiten und an den betreffenden Orten geschehen sind", stieß aber zugleich Betroffene vor den Kopf, wenn er anschließend auf über 80 Seiten versuchte, zu erörtern, was nun genau "Missbrauch" sei und was nicht. Ihm schien eine solche Abhandlung wichtig - das Gespür dafür, dass sie für Betroffene ein Schlag ins Gesicht ist, fehlte ihm. "Er hat es noch immer nicht verstanden", konterten entsprechend dann auch Betroffenenvertreter, die seit Jahren eine systematische Aufarbeitung forderten.

Sein Rücktritt: Für ihn eine Erlösung

In die Geschichtsbücher wird Benedikt XVI. wohl trotz allem deshalb eingehen, weil er sich gewissermaßen selbst die Erlösung gönnte und am 11. Februar 2013 die Reißleine zog. Nach Papst Coelestin V. im Jahr 1294 verkündete er als zweiter Papst der Geschichte überhaupt seinen freiwilligen Amtsverzicht. Die katholische Kirche geriet aus den Fugen, denn es fehlte die Routine für ein solches Prozedere. Kann denn ein Papst einfach zurücktreten? Zumindest war eines sicher: Nun, da Joseph Ratzinger selbst Papst war, gab es niemanden mehr, der sein Rücktrittsgesuch hätte ablehnen können.

Und so tat er es einfach. Er trat zurück, aus Rücksicht auf sich selbst und seine Gesundheit. Weil er nicht den Rest seiner Tage als Papst verbringen wollte. Joseph Ratzinger wollte wieder das tun, was ihm im Leben die größte Erfüllung gab: lesen, schreiben und beten. Er wolle nun schweigen, sagte er und lebte fortan innerhalb des Vatikans im Kloster Mater Ecclesiae ("Mutter der Kirche").

Der Theologe konnte nicht schweigen

Doch das Schweigen gelang dem "Papa Emeritus", wie Ratzinger fortan genannt werden wollte, nicht. Mehrfach veröffentlichte er Texte, die als Gegenstimme zu aktuellen Entwicklungen und der Weltkirche unter Papst Franziskus verstanden wurden. Bereits 2014 sprach er sich dagegen aus, dass eine Teilnahme an der Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene möglich würde - eine Frage, die zu diesem Zeitpunkt auf der Familiensynode diskutiert wurde. 2019 sorgte er mit steilen Thesen zu den Missbrauchsfällen in der Kirche für Furore: Die 68er und die liberale Theologie seien dafür mitverantwortlich. Kein Wort über mögliche Systemprobleme der Kirche.

Beobachter diskutierten immer wieder, inwieweit Benedikt in seinen letzten Jahren von konservativen Kräften im Vatikan instrumentalisiert wurde. Wurde er am Ende zu einer Marionette? So ganz zu glauben ist das nicht. Besucher berichteten, er sei bis zum Schluss geistig fit gewesen, auch wenn Körper und Stimme nach und nach versagten. Es ist auch nicht glaubwürdig, dass er so gar nicht einschätzen konnte, wie seine Äußerungen als emeritiertes Kirchenoberhaupt wahrgenommen würden oder dass jedes seiner Worte auf die Goldwaage gelegt und mit den Äußerungen Franziskus' abgeglichen würde. Er hätte einfach schweigen können, wie er es vorgehabt hatte.

Das konnte er nicht. Denn auch hier klang wieder die Melodie seines Lebens durch: Joseph Ratzinger, der Theologe. Einer, dem es in erster Linie um die von ihm für richtig gehaltene Wahrheit ging - nicht um die Konsequenzen, die das Aussprechen dieser Ansichten und Gedanken nach sich zog. Und er wollte nichts zurückhalten. Nicht als Universitätsprofessor, nicht als Präfekt der Glaubenskongregation, nicht als Papst - und auch nicht als Papa Emeritus.

ntv.de