Der Skandal um sexuelle Übergriffe erreicht mit dem vorläufigen Bericht zu den Regensburger Domspatzen eine neue Dimension. Es ist nur ein kleiner Teil eines viel größeren Problems: Jahrzehntelang wurden Schutzbefohlene in den Einrichtungen christlicher Kirchen misshandelt und missbraucht. Eine Rückschau auf über 60 Jahre von staatlichen Stellen und dem Vatikan systematisch verschleierten sexuellen Missbrauchsfällen und eine sehr schleppende Aufarbeitung und Verurteilung der Schuldigen.

Kirche
© ReutersPapst Benedict XVI feiert der 85. Geburtstag seines Bruders, Georg Ratzinger (rechts), während eines Konzerts bei den Regensburger Domspatzenim Januar 2009.
Die Rolle der katholischen Kirche bei sexueller Gewalt steht erneut im Mittelpunkt der Debatte. Am 8. Januar legte Rechtsanwalt Ulrich Weber einen vorläufigen Bericht zur Misshandlung von Kindern und Jugendlichen bei den Regensburger Domspatzen vor. Von 1953 bis 1992 sind mindestens 231 Kinder von Priestern und Lehrern des Bistums verprügelt oder sexuell missbraucht worden.

Er gehe jedoch davon aus, „dass die Dunkelziffer der misshandelten Kinder noch deutlich höher liegt“. Ulrich Weber rechnet damit, dass etwa jeder Dritte der rund 2.100 Vorschüler unter körperlicher Gewalt litt. Außerdem wies der Rechtsanwalt darauf hin, dass der Domrat „seit spätestens Ende der 80er“ über die Geschehnisse informiert war. Auch der langjährige Leiter des Chores, Georg Ratzinger, muss „von den zahlreichen Misshandlungsfällen bei dem Knabenchor gewusst haben“. Ratzinger wies diese Vorwürfe inzwischen zurück.

Die Untersuchung zu einem der ältesten Knabenchöre der Welt präsentiert nur ein aktuelles Kapitel in der langjährigen Geschichte bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch und Gewalt in den Erziehungseinrichtungen der christlichen Kirchen. Erst seit den 1990er Jahren hat eine vorsichtige Aufarbeitung begonnen.

In Irland wurden jahrzehntelang Tausende Minderjährige in kirchlichen und staatlichen Heimen systematisch missbraucht und misshandelt. Der irische Ministerpräsident Albert Reynolds trat 1994 von seinem Amt zurück. Ein von ihm geförderter Generalstaatsanwalt hatte jahrelang wegen Kindesmissbrauchs verdächtige katholische Priester vor der Strafverfolgung geschützt.

Ausgelöst durch den Skandal in Irland beginnt in Deutschland, Europa und in den USA langsam eine Aufarbeitung. Die größten Skandale werden aus Großbritannien, Belgien und Deutschland gemeldet. Die von der US-Bischofskonferenz in Auftrag gegebene John-Jay-Studie aus dem Jahr 2005 zeigt, dass vier Prozent aller katholischen Priester in den USA zwischen 1950 und 2002 des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurden. 95 Prozent aller US-Diözesen seien von sexuellem Missbrauch betroffen.

In Irland selbst dauert es noch viele Jahre bis endlich ein umfassender Bericht vorgelegt wird. Der Ryan-Report kommt zu dem Ergebnis, dass das gesamte System Kinder mehr als Gefängnisinsassen und Sklaven, denn als Menschen mit Rechten und menschlichem Potential behandelte. Schläge waren religiöses Ritual, von Beamten gedeckt und konsequent abgeschirmt. Eine Kultur der Geheimhaltung verhinderte die Aufdeckung. Auch die Kontrolleure der Regierung stoppten die Missbräuche nicht.


Kommentar: Denn sie sind mittendrin statt nur dabei...


Kurz danach nimmt auch die Aufarbeitung in Deutschland Gestalt an. Den Anfang macht der Rektor des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes. Er informiert die ehemaligen Schüler in einem Brief über mögliche Missbrauchsfälle. Daraufhin werden dutzende Verdachtsfälle bekannt. Es betrifft nahezu alle bekannten katholischen Schulen in Deutschland. Die bekanntesten Fälle werden das oberbayerische Benediktinerkloster Ettal, die Odenwaldschule und der Knabenchor der Regensburger Domspatzen.

Der externe Sonderermittler für die Klosterschule Ettal, Thomas Pfister, schildert in seinem Abschlussbericht jahrzehntelange Misshandlungen und sexuellen Missbrauch an mehr als 100 Klosterschülern durch mindestens 15 Mönche. Ein ehemaliger Abt soll Schutzbefohlene geschlagen und seelisch gequält haben. Zahlreiche Verantwortliche treten zurück, darunter auch die evangelische Hamburger Bischöfin Maria Jepsen. Sie war im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen gegen einen Pastor in die Kritik geraten.

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt nach den Missbrauchsskandalen immens. Im Februar 2014 wirft ein Expertengremium der Vereinten Nationen dem Vatikan vor, den Missbrauch systematisch zu verschleiern und fordert eine unabhängige Untersuchung der Fälle.