In Deutschland leben rund eine Million Psychopathen, haben neue Studien ergeben. Manche von ihnen arbeiten unerkannt in hohen Führungspositionen. Und sie sind gefährlich. Wie kann man sich vor ihnen schützen?
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© iStockphotoGefährliche Persönlichkeitsstörungen: Die meisten Psychopathen sitzen nicht im Gefängnis, sondern führen ein freies, unerkanntes Leben
Es erscheint wie eine makabere Laune des Schicksals, dass der kundigste Experte für derlei Fragen in unmittelbarer Nachbarschaft der Vancouver-Morde lebt. Robert D. Hare ist ein zierlicher Mann mit wachen Augen. Seine Worte formt er ruhig und gelassen, ein sorgsam gestutzter grauer Bart rahmt sein schmales Gesicht. Er könnte Pastor sein oder der gütige Leiter eines humanistischen Gymnasiums. Tatsächlich ist der emeritierte Professor der University of British Columbia jedoch der renommierteste Psychopathen-Jäger der Welt. Was Robert Hare antreibt, ist mehr als Neugier. Es ist ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit. Denn keine andere Persönlichkeitsstörung richtet einen ähnlich verheerenden Schaden an wie die Psychopathie. »Psychopathen bringen Unglück und Zerstörung über die Menschen in ihrem Umfeld«, erklärt Hare. »Deshalb ist es so wichtig, sie erkennen und ihnen begegnen zu können.«

Doch was genau macht einen Menschen zum Psychopathen? Und woran kann man ihn erkennen? Lange Zeit haben die Wissenschaftler auf diese Fragen keine eindeutige Antwort gefunden. Im Diagnostischen und Statistischen Handbuch Psychischer Störungen, der Bibel aller Psychiater, sucht man den Begriff »Psychopath« bis heute vergeblich. Erst die Arbeiten von Robert Hare haben Klarheit in die verworrene Diskussion gebracht. Ein von ihm entwickelter Test, die sogenannte PCL (»Psychopathy Checklist«), benennt eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen, die nach Meinung der Fachleute dem perfekten Psychopathen zu eigen sind. Wer mehr als 75 Prozent dieser Merkmale erfüllt, gilt offiziell als Psychopath. Die meisten Experten halten Psychopathie für angeboren. Und für unheilbar. Einmal Psychopath, immer Psychopath - dieser These folgen heute auch einige Gerichte in den USA. Längst lassen sie ihre Angeklagten mit Robert Hares PCL untersuchen. Ein hoher Score hat in Amerika schon eine Reihe von Verbrechern direkt auf den elektrischen Stuhl gebracht.

Hares berühmte Liste zeichnet ein wahrhaft wahnwitziges Bild: Psychopathen sind demnach charmant wie George Clooney, verlogen wie Pinocchio, betrügerisch wie Bernard Madoff, selbstherrlich wie Josef Stalin, aufbrausend wie Adolf Hitler und sexuell untreu wie Giacomo Casanova. Sie übernehmen niemals Verantwortung für das, was sie tun. Und der vermutlich entscheidende Punkt: Sie sind nicht dazu in der Lage, Reue oder Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden. Sie haben buchstäblich kein Gewissen. Robert Hare hat den typischen Psychopathen als »Raubtier in Menschengestalt« bezeichnet.

»Meist wirkt der typische Psychopath sehr angenehm und hinterlässt einen positiven Eindruck, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet«, schreibt der US-Forscher Hervey Cleckley in seinem Standardwerk The Mask of Sanity. Diese Maske der Normalität ist es, die Psychopathen so gefährlich macht. Wie im Fall Dennis Rader: Nach außen führt der Amerikaner das Leben eines fürsorglichen Familienvaters. Er arbeitet für die Stadtverwaltung, engagiert sich in der Kirchengemeinde und leitet eine Pfadfindergruppe. Niemand ahnt, dass Rader für eine Serie grausamer Foltermorde verantwortlich ist. »Wie viele muss ich noch umbringen, damit ich meinen Namen endlich in der Zeitung lese?«, fragt er höhnisch in einem anonymen Brief an die Presse. 30 Jahre lang mordet sich Rader durch die Vororte von Wichita im US-Bundesstaat Kansas. Erst eine DNA-Probe bringt die Ermittler auf die richtige Spur. Die Richter verurteilen Rader zu 175 Jahren Haft - ohne Chance auf Entlassung.

»Nirgendwo finden wir eine so hohe Dichte an Psychopathen wie in den Hochsicherheitstrakten unserer Gefängnisse«, sagt Hare. Mindestens ein Drittel der Menschen dort sind Psychopathen wie Dennis Rader. Geschätzte 50 Prozent aller schweren Gewaltverbrechen gehen auf ihr Konto. Das Klischee vom ultra-brutalen, mitleidlosen Serienkiller ist also keine Erfindung Hollywoods, sondern traurige Realität. Psychopathen töten aus nichtigen Anlässen, mit völlig entspanntem Pulsschlag, ohne zu zögern.

Das ist jedoch nur ein Teil der Geschichte. Denn die meisten Psychopathen sitzen nicht im Gefängnis, sondern führen ein freies und unerkanntes Leben. Experten schätzen ihre Zahl in Deutschland auf knapp eine Million. »Die Chance, dass Sie in Ihrem Leben schon einmal mit einem Psychopathen zu tun hatten, liegt bei genau 100 Prozent«, sagt der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer.

Doch wo kann man ihnen begegnen? »Einige von ihnen arbeiten in den allerhöchsten Positionen der Geschäftswelt«, antwortet Birbaumer. »Hier finden sie alles, was sie interessiert: Geld, Macht, Kontrolle über andere Menschen. Man trifft sie in der Politik, im Gesundheitswesen, den Medien - intelligente Psychopathen sind häufig sehr erfolgreiche Menschen.« Mit anderen Worten: Ihr Boss könnte ein Psychopath sein. Oder der Boss von Ihrem Boss.

Aber was genau unterscheidet erfolgreiche Psychopathen von jenen, die in ihrer Zelle der Todesspritze entgegendämmern?

»Der entscheidende Unterschied ist der Faktor Intelligenz«, erklärt Birbaumer. Mit anderen Worten: Der psychopathische Chef ist nicht weniger gewissenlos, manipulativ oder kalt als ein durchgeknallter Serienkiller, jedoch zu schlau, um sich in allzu große Gefahr zu begeben - oder sich erwischen zu lassen. Keine besonders beruhigende Diagnose. Wer unter einem psychopathischen Chef arbeitet, wird immer unter ihm leiden, von ihm manipuliert und gedemütigt werden. Und fassungslos dabei zusehen, wie der Peiniger von einem Erfolg zum nächsten eilt.

Mit einem rhythmischen Brummen beginnt der Kernspintomograf am Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie in Tübingen seine Arbeit. Schicht für Schicht scannt die mehr als eine Million Euro teure Maschine das Gehirn eines Probanden. Was die Forscher wenige Sekunden später auf ihren Monitoren erblicken, ist eine Sensation: Die Wissenschaftler können menschliche Angst im Gehirn sichtbar machen. Wir verbrennen uns die Finger am Kaminfeuer - unser Gehirn reagiert. In Zukunft werden unsere Hände die Flammen meiden. »Negative Konditionierung« nennen Psychologen diesen Vorgang - eine der fundamentalsten Formen des Lernens. Birbaumer und sein Team konnten zeigen, dass dabei mehrere Hirnareale aktiv sind, vor allem die Insula, die Amygdala und der orbitofrontale Kortex. Dort feuern unsere Nervenzellen, wenn wir so etwas wie Angst vor einem bevorstehenden Ereignis empfinden. Birbaumer und seine Kollegen haben jetzt herausgefunden: In vergleichbaren Situationen herrscht im Gehirn von Psychopathen absolute Funkstille. »Diese Menschen sind nicht dazu in der Lage, Angst zu empfinden«, erklärt der Forscher.

Birbaumers bahnbrechende Studie zeigt zweierlei: zum einen, dass die Gehirnforschung eine betrugssichere Methode liefert, um Psychopathen zu entlarven. »Leider haben wir das Problem, dass sich die wirklich intelligenten und erfolgreichen Psychopathen niemals freiwillig in einen Hirnscanner legen werden«, sagt Birbaumer. Die zweite Konsequenz ist wesentlich bedrohlicher: Wenn Psychopathen keine Angst empfinden, dann laufen fast alle Sicherungsmaßnahmen des Staates bei ihnen ins Leere. Keine Strafandrohung wird sie dazu bringen, ihr Verhalten zu kontrollieren. Genau hier könnte der Grund dafür liegen, dass Psychopathen nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis etwa dreimal so häufig rückfällig werden wie andere Kriminelle. Ihr Gehirn ist einfach nicht darauf programmiert, aus der erlittenen Strafe zu lernen.

Aber wie sehr sind wir noch Mensch, wenn wir nicht bereuen und mitfühlen können, wenn Liebe, Selbstzweifel und Furcht uns für immer fremd bleiben werden? Sind Psychopathen so etwas wie eine feindliche Spezies im Menschengewand? Fest steht: Viele Experten weigern sich inzwischen, Psychopathie lediglich als eine Persönlichkeitsstörung unter vielen zu betrachten. Denn Psychopathen leiden nicht an ihrem Zustand. Was ist schon schlimm daran, nie von einem schlechten Gewissen geplagt zu werden? Keinen Ängsten ausgesetzt zu sein? Nicht zu leiden, wenn es anderen schlecht geht? Im Gegenteil: In einer ganzen Reihe von Situationen sind Psychopathen gesunden Menschen deutlich überlegen. Sie werden etwa im Krieg schneller und bereitwilliger töten als andere Soldaten. Wissenschaftler konnten zeigen, dass während des Jugoslawienkriegs ganz gezielt junge männliche Psychopathen für die Söldnerheere angeworben wurden. Dieser Krieg gilt heute als einer der brutalsten und erbarmungslosesten der vergangenen Jahrzehnte.

»Bekäme ich meine Probanden nicht kostenlos aus dem Gefängnis, würde ich mich einfach an der Börse umsehen«, scherzt Robert Hare. Tatsächlich sehen viele Experten in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise weniger die Folgen allzumenschlicher »Gier« einzelner Banker, sondern vielmehr das skrupellose Wirken psychopathischer Manager. Das Schlimme daran: Die chaotischen Prozesse der Globalisierung, erst recht die gegenwärtige Krise haben das Business in ein noch günstigeres Biotop für Psychopathen verwandelt. Denn je schneller und radikaler sich die Welt verändert, desto besser werden sie sich darin zurechtfinden. »Psychopathen lieben den schnellen Wandel«, verrät der Psychologe Paul Babiak. »Was andere Menschen verängstigt, gibt ihnen den entscheidenden Kick.«

Eine gewagte These? Nicht unbedingt, wie die beiden britischen Psychologinnen Belinda Board und Katarina Fritzon gezeigt haben. Sie untersuchten die Persönlichkeitsmerkmale hochrangiger Manager. Das Ergebnis: Ein hoher Anteil der Untersuchten zeigte stark psychopathische Züge. Sie waren selbstsüchtig, oberflächlich charmant, frei von Mitgefühl, manipulativ und unehrlich. Dieselben Eigenschaften, die einen Menschen zum Massenmörder machen, lassen ihn in modernen Unternehmen Erfolge feiern.

Was Psychopathen in Nadelstreifen anrichten können, zeigt das Beispiel des US-Managers Albert »Die Kettensäge« Dunlap. Er bedrohte seine Ehefrau mehrfach mit Messern und Handfeuerwaffen, ließ sie oft tagelang ohne Geld und Lebensmittel zu Hause sitzen. Die Ehe wurde schließlich wegen »extremer Grausamkeit« geschieden. Seine Eltern besuchte er nicht einmal zu deren Beerdigung. Unter Börsen-Analysten wurde Dunlap zum Star, als er 11 000 Mitarbeiter seiner Firma mit einem einzigen emotionslosen Federstrich feuerte - und den Kurs seiner Aktie damit dramatisch in die Höhe trieb. Dass hinter den beeindruckenden Zahlen schmutzige Bilanztricksereien steckten, bemerkten die Aufsichtsräte erst, als das Unternehmen bereits kurz vor der Pleite stand. Dunlap hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst aus der Firma verabschiedet. Seine Kollegen haben ihn inzwischen zum »meistgehassten Manager aller Zeiten« gewählt.

Doch wie kann man sich vor einem Psychopathen schützen? »Das ist keine leichte Aufgabe«, erklärt der Psychologe Paul Babiak. Mit ihrer Risikobereitschaft, ihrer Furchtlosigkeit, ihrer Fähigkeit, schnelle und harte Entscheidungen zu treffen, wirken Psychopathen wie geborene Anführer. »Personal-Manager sollten den Lebenslauf eines jeden Bewerbers sorgsam überprüfen. Psychopathen fallen in der Regel dadurch auf, dass ihre exzellenten Zeugnisse und Empfehlungsschreiben gefälscht oder zumindest stark geschönt sind«, rät Babiak. Auch die Körpersprache kann den Psychopathen verraten.

Psychologen wissen seit einigen Jahren, dass Gesten mehr sind als eine harmlose Untermalung unserer Sprache. Offenbar helfen sie unserem Gehirn auch dabei, die richtigen Worte zu finden. Genau deshalb gestikulieren wir auch schneller und lebendiger, wenn wir uns in einer Fremdsprache unterhalten. Robert Hare hat nun herausgefunden: In genau der gleichen Weise verändert sich plötzlich die Gestik von Psychopathen, wenn sie über Themen sprechen, die eigentlich mit Gefühlen verknüpft sein sollten. Erzählen sie etwa von ihren Eltern, Kindern oder ihrem Partner, klingen ihre Worte zwar warmherzig und gefühlvoll, doch die Körpersprache ist dabei so hektisch und unruhig, als sprächen sie in einer für sie fremden, mühsam erlernten Sprache.
Nach einem Patentrezept für den Umgang mit Psychopathen fahnden die Experten gleichwohl vergeblich. »Halte dich von ihnen fern«, lautet der schlichte Rat, den Hare und Babiak in ihrem Buch Menschenschinder oder Manager (Hanser, 24,90 Euro) geben. Kein besonders ausgefeilter Tipp, wie die Autoren selbst offen zugeben: »Wir sind uns vollkommen darüber im Klaren, dass unsere Arbeit gerade erste begonnen hat.«