Einheimische trinken verseuchtes Flusswasser. In der Nachbarschaft pumpt Nestlé bestes Trinkwasser und verkauft es in Flaschen.
Wasser Skandal Flint Michigan Blei im wasser
"Vergiftet unsere Kinder nicht!"
Flint im US-Bundesstaat Michigan hat 100'000 Einwohner. Die Menschen sind in der Mehrheit Afroamerikaner. Seit Monaten beklagen sie sich über Hautausschlag, starken Juckreiz, Haarverlust, Ohreninfektionen und Gelenkschmerzen. Das Wasser, das aus dem Hahnen kommt, ist bleiverseucht. Wer über längere Zeit davon trinkt oder sich damit duscht, setzt sich einer chronischen Bleivergiftung aus. Besonders gefährdet sind Kinder unter sechs Jahren. Schwere Folgeschäden treten oft erst nach Jahren auf.

In den USA beschäftigt der Skandal Präsident Obama und die Präsidentschaftskandidaten. Für Leser und Leserinnen in Europa hingegen ist die Geschichte kaum nachvollziehbar. Die Stadt Flint liegt nicht irgendwo in einem Trockengebiet, sondern mitten im grössten Süsswasserreservoir Nordamerikas, zwischen Lake Huron und Lake Michigan, zwei der fünf Grossen Seen.

Republikanische Sparpolitik

Inzwischen ist bekannt, dass die Bleiverseuchung in Flint durch den stark verschmutzten gleichnamigen Fluss verursacht wird. Jahrzehntelang hatte Flint das Wasser via Detroit aus dem Lake Huron bezogen. Das änderte sich, als 2011 der Republikaner Rick Snyder Gouverneur wurde. Als erstes brachte Snyder Steuererleichterungen in Milliardenhöhe für Reiche und Unternehmen durch. Darauf verordnete er dem Bundesstaat ein hartes Sparregime. Flint wurde von der sauberen Trinkwasserversorgung der Hauptstadt Detroit abgehängt und neu über den Fluss Flint versorgt. Fünf Millionen Dollar sparte die staatliche Verwaltung ein. Nach ersten Schätzungen werden jetzt Hunderte von Millionen nötig sein, um das Desaster zu beheben.
Flint Michigan
© ZDFFlint liegt mitten im grössten Süsswasserreservoir Nordamerikas – doch der Staat spart bei der Trinkwasserversorgung.
Im vergangenen Oktober gaben die Behörden endlich zu, dass die Trinkwasserversorgung von Flint ein Sicherheitsrisiko darstelle. Verschiedene öffentliche Schulen hatten massiv erhöhte Bleiwerte gemeldet. Am 13. Januar rief Gouverneur Snyder den Notstand aus und befahl den Einmarsch der National Guard. Präsident Barak Obama kündigte für Flint Soforthilfe in der Höhe von 80 Millionen Dollar an: «Unsere Kinder sollen sich keine Sorgen machen müssen über das Wasser, das sie in amerikanischen Städten trinken. So etwas dürfen wir nicht akzeptieren.»

Nestlé tritt als Retter auf

Der grösste private Nutzer von sauberem Trinkwasser in der Region ist die Schweizer Firma Nestlé. Hundert Kilometer nordwestlich von Flint betreibt Nestlé eine imposante Flaschenwasserfabrik. Aus einem Untergrundstrom pumpt Nestlé täglich 1,2 Millionen Liter frisches Wasser, um dieses unter dem Namen «Ice Mountain» höchst profitabel zu verkaufen.

Jetzt hat Nestlés Stunde geschlagen. Der Stadt in Angst versprach Nestlé ende Januar zusammen mit andern grossen Flaschenwasserproduzenten eine Spende von 6,5 Millionen Flaschen mit abgepacktem Wasser, darunter «Ice Water», das Nestlé nebenan pumpt. Die Menschen in Flint decken sich seither an verschiedenen städtischen Verteilpunkten mit Kisten voller Gratis-Flaschenwasser ein. Sie trinken es nicht nur, sie waschen damit die Gesichter ihrer Kinder, duschen damit.

Gefährliche Langzeitwirkung

Kurzfristig gesehen erscheint Nestlé als Retterin in der Katastrophe. Die Langzeitwirkung aber ist gefährlich. Weil Politiker einen der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungsbereiche kaputt gespart haben, können Nestlé und andere Private wichtige Zeichen setzen: Ihr Wasser ist verlässlich. Das Marketing mit dem Gratis-Wasser wird sich dereinst auszahlen. Bereits jetzt trinken in vielen Millionenstädten der Dritten Welt Menschen, die es sich leisten können, nur noch Nestlé-Wasser. Weil das Vertrauen in die eigenen Behörden gestört ist, die öffentliche Trinkwasserversorgungen darnieder liegen.

In Michigan ging Nestlé vor wie in der Dritten Welt. Der Konzern suchte nach geeigneten Quellen, nützte die schwammige bis fehlende Gesetzgebung bei der Grundwassernutzung aus und schlug dann zu. Für eine einmalige staatliche Gebühr von 85 Dollar pumpte Nestlé ab 2001 hunderte von Millionen Liter Wasser gratis ab und verkaufte sein «Ice Water» äusserst lukrativ. Heftige und teure Gerichtshändel mit besorgten Bürgern zogen sich jahrelang hin. Im Jahr 2009 endete ein langer Rechtsstreit in einem Vergleich. Der Staat reduzierte Nestlés Fördermenge. In der davor verabschiedeten staatlichen Regulierung zur Wassernutzung wurde Nestlé aber explizit ausgenommen.

Die Klüngelei mit dem Wasser

Verwundert es, dass diejenigen, die das Desaster in Flint nun verantworten müssen, aus der gleichen republikanischen Partei stammen, die Nestlés Wassergeschäfte Anfang der Nullerjahre mit massiven Steuererleichterungen unterstützt haben? Hillary Clinton und Bernie Sanders nahmen den Steilpass auf. Sie forderten auf ihrer Wahlkampftour den Rücktritt von Gouverneur Rick Snyder.


Snyder hatte die Stadt Flint nicht nur an den verseuchten Fluss anschliessen lassen, er lehnte aus Kostengründen auch eine Behandlung des Wassers ab, das vom Fluss in das Wassersystem der Stadt geführt wurde. Ein dem Flusswasser beigemischtes anti-korrosives Mittel hätte für 100 Dollar pro Tag verhindert, dass die alten Blei-Trinkwasserröhren in Flint akut zu rosten begannen. Das Gesuch einer Fabrik von General Motors, die Wasserversorgung für die Autoproduktion wieder zurück ans saubere Detroit-Wasser zu hängen, hiess der Gouverneur hingegen klammheimlich gut. Das Flint-Wasser hatte die vom Förderband laufenden GM-Motorenteile rot werden lassen.

Anstelle von Gouverneur Snyder trat im Januar dessen Stabschef Dennis Muchmore zurück. Muchmores Frau Deborah ist in Michigan zufälligerweise Nestlés lokale Kommunikationschefin. Das ist unschön. Als die Flint-Krise mitte Februar den Höhepunkt erreichte und Nestlé wegen des Gratis-Pumpens erneut in die Schlagzeilen geriet, übernahm deshalb Nestlé Waters North America das Wort. Die jahrelang erprobte Konzernsprecherin Jane Lazgin meinte lapidar: «Unsere Wassernutzung ist immer genehmigt und in Einklang mit den Bewilligungsbehörden.»

Michael Moores Kommentar

Wie es in Flint weitergehen soll, weiss niemand so genau. Das bleiverseuchte Trinkwassersystem ist kaputt, die Gesundheit und Psyche der mehrheitlich afroamerikanische Bevölkerung schwer in Mitleidenschaft gezogen. Auf den Punkt bringt es der Filmemacher Michael Moore, der in der Region wohnt: «Gib den Reichen Steuererleichterungen. Lass die Armen vergiftetes Flusswasser trinken.»

Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine. Urs Schnell ist Regisseur und Mitautor des Films «Bottled Life - Nestlés Geschäfte mit dem Wasser» (2012). Der WDR strahlt den Film am Mittwoch, 16. März um 23.25 Uhr erneut aus.