freier Wille
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Viele Argumente sprechen gegen die Existenz eines freien Willens. Setzen wir die Moral aufs Spiel, wenn wir ihn aufgeben?

Der freie Wille gehört zum geistigen Inventar der Menschheit. Nach einer Studie aus dem Jahr 2010 (und nichts spricht dafür, dass sich das seitdem tiefgreifend geändert hat) glauben je nach Kulturkreis zwischen 65 und 85 Prozent der Menschen an ihn. Daran, dass wir unsere Entscheidungen völlig frei treffen. So gesehen ist die Welt voller Libertärer.

Dennoch sind ernste Zweifel an der Existenz eines freien Willens angebracht. Zunächst: In der Natur ist Freiheit nicht vorgesehen. Physikalische, chemische und biologische Prozesse laufen nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Davon kann sich selbst der Mensch nicht freimachen.

Willentliches Handeln beruht auf Gehirnaktivität, ist ihr Produkt. Das Gehirn wiederum ist ein Ergebnis der Evolution. Anhänger des freien Willens argumentieren damit, dass sich dieser im Lauf der Entwicklung ausbildete. Daran ist etwas Wahres. Natürlich stimmt es, dass der Mensch freier in seinen Entscheidungen als andere Lebewesen ist, als ein Einzeller, eine Petunie oder eine Spitzmaus. Aber diese Freiheit ist relativ, nicht absolut. Der Wille bleibt an Hirnprozesse, an die Aktivität von Nervenzellen gebunden.

Entscheidungen fallen im Gehirn, bevor wir es mitbekommen

Hirnforscher zeigten in einer Reihe von Experimenten, dass Entscheidungen bereits gefällt werden, bevor das Bewusstsein von ihnen Kenntnis nimmt. Die Freiheit wird ihm vorgegaukelt. Zugespitzt gesagt: Wir denken uns nicht selbst. Wir werden gedacht. In die gleiche Richtung gehen Überlegungen des amerikanischen Neurowissenschaftlers und Autors Sam Harris. Er schlägt vor, man solle in sich selbst ergründen, woher ein bestimmter Gedanke, eine bestimmte Entscheidung stammen. Er ist davon überzeugt, dass die Herkunft einer Handlung oder einer in uns auftauchenden Idee mysteriös ist. Was sich in das Bewusstsein drängt, kommt aus der Dunkelheit. „Wir erfahren gar nicht den freien Willen, von dem wir glauben, dass wir ihn erfahren“, sagt Harris.

Wenn der freie Wille zumindest in einem absoluten Sinn eine Illusion ist, warum sind die allermeisten Menschen dann so von ihm überzeugt? Die Antwort darauf kann wieder die Evolution geben. Die Idee, »Autor« seiner Handlungen zu sein, sie nach reiflicher Überlegung zu fällen, bedeutete vermutlich einen Überlebensvorteil gegenüber reinen Instinktwesen. Und sie bahnte womöglich den Weg zur Bildung sozialer Gemeinschaften und zum ethischen Bewerten von Handlungen in Bezug auf diese Gruppe

Der freie Wille stand an der Wiege der Moral

Wer selbst für seine Handlungen verantwortlich ist, kann für sie gepriesen oder verdammt werden. Der freie Wille stand an der Wiege der Moral, am Beginn von Gut und Böse.

So verwundert es nicht, dass der freie Wille auch deshalb verteidigt wird, weil er die öffentliche Ordnung aufrechterhält. Wenn wir nicht aus Verantwortung handeln, sondern aus den Tiefen des Gehirns ferngesteuert werden, dann geht scheinbar alles. Dann ist alles egal. Güte, Selbstlosigkeit und Strebsamkeit weichen Egoismus, Betrügerei und Faulheit. Die Psychologen Kathleen Vohs von der University of Utah und Roy Baumeister von der Florida State University verweisen auf ihre Studien, nach denen die Gefahr moralischen Verfalls besteht, falls der Glaube an den freien Willen schwindet. Der Philosoph Saul Smilansky von der Uni Haifa schlägt sogar vor, die furchtbare Wahrheit eines unfreien Willens vor dem Volk zu verheimlichen. Es sei gefährlich, die Idee eines durch Naturgesetze vorbestimmten Weltgeschehens zu verbreiten. Steht also Fatalismus - der Glaube an die Belanglosigkeit des eigenen Tuns - am Ende der Erkenntnis, weil alles vorherbestimmt ist? Nein, ganz und gar nicht. Es gibt auf der Ebene menschlichen Handelns kein unabänderliches Schicksal. Der Theorie nach sind wir unfrei, der Praxis nach aber nicht. Auch wenn absolute Freiheit und totale Unabhängigkeit illusionär sind, unsere Taten sind bedeutsam. Sie haben Konsequenzen, im besten Fall positive - auch auf das Tun der Anderen.

Je mehr die Wissenschaft versteht, wie der Verstand funktioniert, umso mehr können Mitgefühl und Verständnis für andere das Ergebnis sein, meint der Philosoph Stephen Cave von der Universität Cambridge. Es erscheint paradox: Jenseits von Gut und Böse wächst eine neue Art von Freiheit. Und mit ihr die Möglichkeit, Gutes zu tun.


Quelle: Hartmut Wewetzer für Der Tagesspiegel