Statt Kaufprämien für Autokäufer eine niedrigere Mehrwertsteuer für alle - damit hat die Koalition für eine Überraschung gesorgt. Doch wie sinnvoll ist die 20-Milliarden-Euro-Maßnahme? Ökonomen sind sich uneins.
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© Patrick Seeger / dpa
Es ist mit Abstand die teuerste der neuen Maßnahmen im Konjunkturpaket: Die Mehrwertsteuer wird befristet gesenkt. Vom 1. Juli bis 31. Dezember beträgt der reguläre Satz statt 19 nur noch 16 Prozent, der ermäßigte Satz statt 7 nur noch 5 Prozent. So haben es die Koalitionspartner von SPD und Union beschlossen. 20 Milliarden Euro wird das den Staat kosten, schätzt die Bundesregierung.

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Während das 130 Milliarden Euro schwere Corona-Konjunkturpaket bei Ökonomen insgesamt bemerkenswert gut bewertet wird, sind die Reaktionen auf seinen teuersten Bestandteil deutlich verhaltener.

Was spricht also dafür - und was dagegen?

Die Koalition verfolgt mit der Senkung der Mehrwertsteuer ein bestimmtes Ziel: Die "Stärkung der Binnennachfrage" - so steht es wörtlich in ihrem Beschluss. Übersetzt also das Befeuern der Kauflaune - und zwar gezielt in der zweiten Hälfte 2020, wenn es darauf ankommt, die durch die Coronakrise darbende Konjunktur wieder in Schwung zu kriegen.

Sinken jetzt die Preise?

Der Ökonom Christian Odendahl vom Centre of European Research (CER) erklärt den beabsichtigten Mechanismus so: "Die Hauptwirkung einer solchen vorübergehenden Senkung besteht darin, dass Verbraucher ohnehin geplante Anschaffungen vorziehen - also zum Beispiel ein neues Sofa nicht erst in ein oder zwei Jahren, sondern jetzt kaufen." Dieser Effekt werde sich wahrscheinlich vor allem bei sogenannten langlebigen Konsumgütern zeigen, also bei teuren Anschaffungen wie Autos oder Möbeln.

Das kann aber nur funktionieren, wenn eine Voraussetzung erfüllt ist: dass Unternehmen die niedrigere Steuer auch an die Verbraucher weiterreichen - also die Preise für ihre Produkte entsprechend senken.

Genau daran gibt es aber bei vielen Experten Zweifel. Der Wirtschaftsforscher Sebastian Siegloch vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim verweist etwa auf eine Studie von finnischen und US-amerikanischen Ökonomen über die Wirkung von Mehrwertsteuersenkungen in Europa. Demnach werden diese im Schnitt nur zu etwa 15 Prozent an die Verbraucher weitergegeben.

"Ich gehe daher nicht davon aus, dass die Preise stark sinken werden, zumindest nicht auf breiter Front", sagt Siegloch. Der gleichen Ansicht sind Wirtschaftsforscher unterschiedlichster Denkschulen, etwa der Chef des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomik und Konjukturforschung, Sebstian Dullien, oder Gabriel Felbermayr, Chef des Kieler Instituts für Wirtschaftsforschung.


CER-Ökonom Odendahl verweist hingegen auf ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte: In Großbritannien wurde die Mehrwertsteuer infolge der Finanzmarktkrise von Ende 2008 bis Ende 2009 gesenkt. Damals kam die Senkung zu etwa drei Viertel bei den Verbrauchern an, allerdings nicht über den gesamten Zeitraum hinweg. "In Großbritannien wurden die Preise zu Beginn recht umfassend gesenkt - dann aber wieder Stück für Stück angehoben", sagt Odendahl, räumt aber auch ein: "Es ist schwierig vorherzusehen, zu welchem Anteil die Steuersenkung an Verbraucher weitergegeben wird, auch weil die Coronakrise mit nichts vergleichbar ist, das wir bislang erlebt haben." Für wahrscheinlich hält Odendahl, dass etwa die Gastronomie ihre Preise nicht senken wird. "Schließlich müssen Restaurants pro Gast mehr verdienen, solange sie nur einen Teil ihrer Tische nutzen können."

"Rein politisch fast schon brillant"

Es ist also gut möglich, dass wir Verbraucher von der Senkung gar nicht profitieren, sondern viele Unternehmen sie schlicht nutzen, um ihre Gewinnspanne zu erhöhen. Damit würde auch das explizite Ziel der Bundesregierung verfehlt, die Kauflaune anzukurbeln.

Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass die Mehrwertsteuersenkung an sich eine schlechte Idee ist - da sind sich Odendahl und Siegloch einig. "Wenn sie statt den Verbrauchern den durch die Krise hart getroffenen Unternehmen zugutekommt, ist das derzeit richtig", sagt Siegloch. "Rein politisch betrachtet ist die Senkung daher fast schon brillant: Sie firmiert als Entlastung der Verbraucher, hilft aber vor allem den Unternehmen."

Auch Odendahl hält es für in Ordnung, wenn Betriebe sich auf diese Weise etwas sanieren können. Für ihn ist die Mehrwertsteuersenkung "eine Mischung aus Konjunkturimpuls und Solvenzhilfe für Unternehmen". Dafür wäre es allerdings sinnvoller gewesen, die Mehrwertsteuer nicht für alle in gleichem Maße zu senken, sondern zielgerichtet und dafür stärker, so der ZEW-Ökonom: "In der Gastronomie hätte man sie zum Beispiel komplett streichen können. Eine Senkung um drei Prozentpunkte ist für diese Betriebe eigentlich zu wenig." Von der nun vereinbarten flächendeckenden Senkung würden einige Unternehmen sicher stark profitieren, die eigentlich keine Unterstützung benötigen.

Ein Extrembeispiel nennt die Wirtschaftswissenschaftlerin Dominika Langenmayr: den Onlinehändler Amazon, für den die Senkung ebenso gilt wie für den Elektroladen um die Ecke.


Zudem gibt es viele von der Krise getroffene Betriebe, denen die Senkung nicht nur nichts nützt, sondern sogar schadet: Sie haben nichts davon, weil ihre Kunden nicht Verbraucher sind, sondern andere Unternehmen, sodass die Umsatzsteuer für sie nur ein durchlaufender Posten ist. Die zweifache Änderung des Steuersatzes verursacht bei ihnen aber dennoch Kosten - weil sie ihre Buchhaltung und die Rechnungsstellung jeweils anpassen müssen, wie ein Steuerberater zu bedenken gibt, der nun mit deutlich mehr Arbeit rechnet:


Eine weitere Gefahr: Sollten die Preise infolge der Senkung doch verbreitet sinken und so die Kauflaune der Verbraucher ankurbeln, dürfte diese wieder deutlich abflauen, wenn die Mehrwertsteuer wieder steigt. "Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass die Wiedererhöhung den Konsum spürbar bremst", sagt Odendahl. Aus diesem Grund sei es auch unwahrscheinlich, dass sie wirklich am 1. Januar 2021 wieder angehoben wird. Denn dann dürfte die Pandemie und die damit verbundene enorme Unsicherheit bei Verbrauchern und Unternehmen noch nicht überwunden sein.

Odendahl plädiert daher für einen flexiblen Ausstieg: "Der richtige Zeitpunkt für eine Rückkehr zu den alten Sätzen ist, wenn wir den Corona-Impfstoff haben."