Gilad Schalit ist frei - und mit ihm rund hundert militante Palästinenser. Die Angst ist groß, dass sich diese Ex-Häftlinge nun wieder dem Terror zuwenden. Das martialische Gehabe der Radikalen bestärkt die Zweifler in Israel in ihrem Glauben, dass der Deal ein Fehler war.


Genau darauf hatten die Skeptiker in Israel gewartet: dass einer der palästinensischen Gefangenen auf dem Weg in die Freiheit Rache schwört, die Gewalt preist, zumindest keine Reue zeigt. Und so kam es. Am Dienstagmittag stieg ein arabisches Fernsehteam in einen der Busse, mit denen die 293 palästinensischen Gefangenen Israels in den Gaza-Streifen gebracht wurden. Wahllos hielt der Reporter den Noch-Häftlingen auf dem Weg in die Freiheit das Mikro unter die Nase - und die Befragten schlugen prompt kriegerische Töne an.

"Ich habe 18 Jahre im Gefängnis verbracht", sagte ein Mann in die Kamera. "Jetzt hoffe ich, dass unsere Kämpfer auch in Zukunft praktische Schritte zur Befreiung Palästinas unternehmen werden." Das sollte wohl heißen, dass der bewaffnete Kampf gegen Israel weitergehen müsse.

Als nächstes äußerte sich eine Frau, ebenfalls wenig versöhnlich. "Ich grüße die Familien der Märtyrer, die umkamen, als sie Gilad Schalit gefangengenommen haben." Schalit habe auf Palästinenser geschossen, er sei ein "Krimineller", wettert die Dame im weißen Kopftuch, "und trotzdem hat sich die ganze Welt für seine Freilassung eingesetzt".

In Gaza-Stadt formierten sich zu diesem Zeitpunkt bereits Zigtausende für die Jubelfeier zur Begrüßung der Freigelassenen. Einer der Sprechchöre: "Wir wollen einen neuen Gilad Schalit." Denn das ist die Logik vieler Militanter: Die Entführung eines Soldaten hat sich als probates Mittel erwiesen, um Gefangene freizupressen. Warum also sollte man von dieser Strategie lassen? Schließlich sitzen ja noch etwa 6000 weitere Palästinenser in israelischen Gefängnissen ein.

In Israel fühlen sich die Kritiker des Deals bestätigt. Die Befürchtungen sind groß, dass der Preis für die Heimkehr von Gilad Schalit zu hoch gewesen sein könnte. Der israelische Soldat war vor mehr als fünf Jahren bei einem von der Hamas orchestrierten Überfall gekidnappt worden. Im Austausch gegen ihn wurden nun 1027 Palästinenser aus israelischer Haft entlassen, davon gelten etwa hundert als besonders gefährlich.

Diese Männer und wenigen Frauen haben Terrorattacken gegen israelische Zivilisten geplant oder ausgeführt, viele von ihnen sollten deshalb lebenslängliche Haftstrafen absitzen. Reue ist zumindest von einigen nicht zu erwarten. Ihre Beteiligung an einem Anschlag auf eine Pizzeria in Jerusalem vor zehn Jahren tue ihr nicht leid, sagte etwa Ahlam Tamim. Bei dem Attentat starben 15 Menschen.

Die Tageszeitung Maariv hat ausgerechnet, dass die in der ersten Phase des Deals freigelassenen 477 Palästinenser für den gewaltsamen Tod von insgesamt 569 Israelis verantwortlich sein sollen. Viele Israelis fürchten, dass die Radikalsten unter den nun Befreiten wieder gegen Israel aktiv werden könnten. Dennoch unterstützten 79 Prozent der Israelis den Deal: Das israelische Dogma, dass kein Soldat zurückgelassen wird, steht für die allermeisten nicht zur Debatte.

Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet ging bisher davon aus, dass etwa 60 Prozent der Freigelassenen sich wieder dem Terrorismus zuwenden. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte die Palästinenser daher eindringlich vor Gewalt. " Wer zum Terror zurückkehrt, muss die Konsequenzen tragen", sagte der Regierungschef. Netanjahu kann sich einen Fehlschlag nicht leisten. Derzeit wird ihm der Schalit-Deal politisch positiv angerechnet - sollte der Terror zurückkehren, dürfte ihm das schwer schaden.

Unter den Kritikern des Gefangenenaustauschs sind auch hochrangige Vertreter der israelischen Sicherheitsbehörden. So hatte der ehemalige Mossad-Chef Meïr Dagan noch am Montag gesagt, der Deal sei ein "schwerer Fehler". In der Vergangenheit war es immer wieder vorgekommen, dass freigepresste Militante erneut Anschläge gegen Israel verübt hatten. Israel wiederum hat mehrfach ehemalige Gefangene wieder festgenommen oder gar getötet.

Aus palästinensischer Sicht ist der Austausch eine Wiedergutmachung. Palästinensische Menschenrechtsorganisationen argumentieren, Israel verletze internationales Recht, indem der Staat Einwohner eines von ihm besetzten Gebiets auf eigenes Territorium verschleppe und inhaftiere. Die israelischen Militärgerichtshöfe erfüllten nicht die Standards des Rechtsstaates, der Israel zu sein vorgebe. So säßen Hunderte Palästinenser ohne Anklage in Israel ein. Dutzende seien seit Jahren in sogenannter Vorbeugehaft. Ermittler nutzen diese, wenn sie davon ausgehen, dass jemand in Zukunft gewalttätig werden könnte.

Entscheidende Rolle des Bundesnachrichtendienstes

Dass Schalit nun freikam, ist auch einem Angehörigen des deutschen Bundesnachrichtendiensts zu verdanken. Gerhard C., der bereits mehrere Gefangenenaustausche zwischen Israel und der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah vermittelt hatte, sollte auch diesen Deal einfädeln. Darum hatte Jerusalem dem Vernehmen nach in Berlin schon kurz nach der Entführung des damals 19-Jährigen ausdrücklich gebeten. C. übernahm die Aufgabe und pendelte jahrelang als unparteiischer Vermittler zwischen Kairo und Jerusalem hin und her. Erst nachdem Ende 2009 ein fast schon zustande gekommener Handel in letzter Sekunde platzte, zog sich C. zurück.

In den vergangenen Monaten war es dann der ägyptische Geheimdienst, der den einstmals von C. skizzierten Deal zum Abschluss brachte. Dass C. als "Vater des Deals" höchster Respekt und Dank entgegengebracht wird, zeigten zwei Treffen, die am Dienstag hinter verschlossenen Türen in Jerusalem stattfanden. Sowohl Israels Präsident Schimon Peres als auch Netanjahu empfingen dabei C. sowie weitere Vertreter des Bundesnachrichtendiensts und der deutschen Regierung. "Sie haben das Fundament für dieses Abkommen gelegt", sagte Peres zu C. und lobte dessen "Weisheit, Professionalität und Hingabe". Auch Netanjahu traf den Nachrichtendienstler - unmittelbar nachdem er Gilad Schalit dessen Eltern übergeben hatte.

Der gescheiterte Handel von 2009 und der jetzt erfolgreich durchgeführte Austausch unterscheiden sich in wenigen, wenn auch entscheidenden Details: Zum einen wich die Hamas von ihrer Maximalforderung ab, alle prominenten inhaftierten Palästinenser-Führer freizupressen. So kommen der zu fünfmal lebenslanger Haft verurteilte Spitzenpolitiker der Fatah-Bewegung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, Marwan Barguti, und der Generalsekretär der Volksfront zur Befreiung Palästinas und Bombenbauer, Ahmad Saadat, nicht frei. Auch in der Frage des Exils für verurteilte Terroristen einigten sich die Konfliktparteien. So werden etwa 203 der jetzt freigelassenen "Schwergewichte" nicht zu ihren Familien ins Westjordanland zurückkehren dürfen, sondern in den Gaza-Streifen oder ins arabische Ausland abgeschoben. Israel hatte zuvor alle verurteilten Terroristen ins Exil schicken wollen.